MEUTE, PAROV STELAR, 29.07.2024, JazzOpen, Schlossplatz, Stuttgart
30 Jahre JAZZOPEN. Ein Blick auf die Wall of Fame ist beeindruckender, als man es ohnehin schon ahnt: Quincy Jones, Tom Jones, Grace Jones, James Jones Brown, Santana, Bob Dylan, David Gilmour, Kraftwerk – um die Größten unter den 120 Genannten zu nennen.
Dieses Jahr: Lenny Kravitz, Herbert Grönemeyer, Sting – um die Größten zu nennen. Der Jazz findet wie üblich und wie angemessen auf den kleineren und mittleren Bühnen statt, das soll bei dem Namedropping nicht unerwähnt bleiben, aber es leitet über zum heutigen Abend, der von der „kleinen“ neuen Stuttgarter Rockband The Stereolines eröffnet, von der „mittleren“ Techno Marching Band MEUTE fortgeführt und zum Peak vom „großen“ Parov Stelar gebracht wird.
Auch wenn The Stereolines als neue Stuttgarter Band antreten, ist schnell klar: hier sind erfahrene Musiker am Start, die Handwerk und Hymne verstehen. Noch ist der Schlosshof nicht voll, aber The Stereolines holen das Publikum professionell ab und stimmen es auf Live-Musik ein. Innovatives wird nicht gegeben, das ist nicht ihr Ansatz, es geht um eingängigen Rock-Pop.
MEUTE ist eine echte Marke geworden. Nachdem sie letztes Jahr ein fulminantes Konzert im Hof des Alten Schlosses abgeliefert haben, steigen sie auf und besteigen nun die Bühne im Hof des Neuen Schlosses. Die elf Musiker spielen House und Techno mit ihren klassischen Marschmusik-Blas- und Schlaginstrumenten. Und das machen sie großartig. Wer das noch nicht kennt: hier das Video zur „You And Me“ anschauen und/oder hier den ausführlichen Bericht zum Wizemann-Auftritt 2019 lesen.
Gründer und Trompete Thomas Burholm erzählt im Radio1-„elektro beats„-Podcast mit Olaf Zimmermann davon, dass ganz zu Anfang der Namen MEUTE und das Konzept stand, konsequent diese Art der elektronischen Musik als Marching Band umzusetzen. Dann fand er schnell begeisterte Mitmusiker, ersteigerte die gebrauchten Uniformen des Vereins Lundener Spielleute 1962, dessen Embleme immer noch die Ärmel schmückt, und los ging’s mit MEUTE und den mittlerweile vier Alben namens „Tumult“, „Puls“, „Taumel“ und „Empor“.
Es wäre ein leichtes, das Konzept aufzuweichen und in das Programm internationale Tophits in houseartiger Blasmusik zu integrieren bis hin zu einem Fußball-EM-anbiederndes Major-Tom-Cover. Schneller Erfolg wäre möglich. Aber da bleibt Burholm unerschütterlich. Mittlerweile schreiben er und weitere Mitglieder eigene Tracks im MEUTE-Stil, es sind also nicht mehr ausschließlich Covers von Laurent Garnier, Deadmau5, Âme, Erykah Badu, Hendrick Schwarz, Trentemøller usw.
Die größte Bühne der JAZZOPEN wird mit den elf Meuterern ordentlich gefüllt und sie haben genug Platz, ihre Marching-Choreografien zu zeigen, während sie unaufhörlich ihren Techno pusten. Dabei muten sie mit ihrem strengen, repetitiven Stil dem Publikum einiges zu, dankbar werden abwechslungsreiche Trompeten- und Saxophon-Soli in guter alter Jazzmanier mit Szenenapplaus bedacht. Auch hier auf dem Schlossplatz lassen es sich die Meutianer nicht nehmen, in die tanzende Menge zu marschieren. Dabei kann versucht werden, all die Patches, Stickers und Buttons genauer anzuschauen, die die Meuteler sich in den letzten Jahren auf ihre Uniformen appliziert haben. Zu erkennen sind u. a. Pac-Man, Pac-Man-Geist, Digital-Herzchen, Totenköpfe aller Art, Freddy Mercury, Donald Duck, Music Cassette, Micky Mouse, FC-St.-Pauli-Wappen, „Das muss so laut“, Ghostbusters, Testbild, Ukraine-Herz, Daft-Punk-Logo, The-Beatles-Logo, Tool-Logo, Keith-Haring-Engel. Der Snaredrummer hat dauerhaft einen Zigarettenstummel zwischen den Kiemen, wahrscheinlich auch nur ein Sticker.
Es ist dunkel geworden, Parov Stelar wird von SWR-Moderatorin Stefanie Anhalt angekündigt und die Zuschauer freuen sich über die Maßen auf den Dauergast auf der JAZZOPEN aus Österreich mit seiner internationalen Musikertruppe.
Der DJ und Produzent Marcus Füreder kam vor 20 Jahren auf die geniale Idee, Swing, der seine Wurzeln in der Zeit der 1920er bis 1930er Jahre in den USA hat, mit elektronischer Tanzmusik in die heutige Zeit zu überführen. In der Swing-Ära verband sich damals bereits Jazz, Entertainment und Kunst miteinander. Der Electro Swing kann also als konsequente Weiterentwicklung begriffen werden, auch hinsichtlich des Entertainment-Aspekts, dem Parov Stelar genussvoll Rechnung trägt. Seine Sängerin und sein Sänger kommen mit Qualität und Verve daher, sein Gitarrist ist ein begnadeter Zupfer, seine Bläser Könner ihres Faches, alle werden im Rahmen ihrer Soli gebührend gefeiert. Hinter der Musiker-Frontreihe steht Füreder auf einem Podest an einem Laptop und gibt den Festival-DJ, der mit großer Geste Soli-Einsätze anzeigt, Beats anhält, Breaks aufhebt, Trommelwirbel anstößt.
Ludovico Navarre, der Kopf der Jazz-House-Formation St. Germains, inszenierte in den Nuller Jahren in der Liederhalle ein famoses Konzert in ähnlicher Manier, bei dem die von Navarre kontrollierten House-Bass-Beats die Basis für Trompeten-, Saxophon-, E-Bass- und Gitarrensoli schuf und somit in langen Bögen in sich greifende, sich überlagernde, aber klar erkennbare Klang-Komplexitäten gebildet wurden, die das Zusammenspiel auf ein Niveau ungeahnter Höhe brachte.
Dieses Stück Musikgeschichte wird heute Abend nicht eingestellt und ist nicht Parov Stelars Anspruch. Das Set besteht aus allerlei erwartbaren Gerne-Mix-Plattitüden, gelegentlich erfrischend durchbrochen, z.B. mit dem kraftwerk-technoiden Schmankerl „Keine Melodie… 1, 2, 3, 4“, einem Cover der Berliner Elektropop-Band Jeans Team. Parov Stelar weiß, wie man Tracks bauen und inszenieren muss, ohne dass eine echte Forderung an das Publikum gestellt wird. Das Ergebnis sind schwungvolle und melodiegetragene Songs, die nicht zu lang sind, mit Soli, die nicht zu sehr ausufern, mit einem 120-BPM-Tempo, das nicht aus der Komfortzone zwingt und mit Dancefloor-Anteilen, die vermeintlich über die Stränge schlagen, aber dann rechtzeitig eingefangen werden. Hier wird ein Minze-Kaugummi gekaut. Kurzzeitig erfrischend, nach kurzer Zeit fad. Hier wird ein Superhelden-Blockbuster gezeigt. Kurzzeitig spektakulär, nach kurzer Zeit vergessen. Dazu wird noch ein Superhelden-Spruch rausgehauen, den man auch schon mal anderswo mit einem noch klangvollerem Stadtnamen gehört hat:
„Wär’ Stuttgart eine Frau, ich würd’ sie heiraten“
Das Publikum ist von Beginn an begeistert, es sitzt schon lange niemand mehr, heute Abend wird nicht in Würde gealtert, heute Abend ist Party. Das Abschlusskonzert der 30. JAZZOPEN ist ein riesengroßes Fest, alle Achtung!
Umtanzt von seinen Musikern und umtanzt vom Bühnenlichtgewitter feiert Herr Füreder allein mit sich hinter seinem DJ-Pult: Er dampft gemütlich seine E-Zigarette, trinkt gemütlich sein Flaschenbier. So lässt es sich aushalten.