ANA FRANGO ELÉTRICO, 24.07.2024, Merlin, Stuttgart
Die Konstellation ist schon ein bisschen tragisch, spielt der brasilianische Shootingstar Ana Frango Elétrico (fast 80.000 Insta-Follower) doch just zeitgleich mit dem Finale des wunderbaren Sommerfestivals der Kulturen auf dem Stuttgarter Marktplatz im Kulturzentrum Merlin – bei allerschönstem Sommerwetter eigentlich nicht wirklich die optimale Location. Dass es letztlich aber doch sehr passend ist, dass die 27-jährige Brasilianerin im schwitzigen Club vor fast vollem Haus spielt, bestätigt sich erst hinterher.
Was ist das überhaupt für ein seltsamer Künstlername? Bürgerlich heißt die Sängerin, Komponistin und Multiinstrumentalistin Ana Faria Fainguelernt, nennt sich als Künstlerin aber „elektrisches Huhn“? Was dann wiederum das sich durch das Konzert ziehende Gegacker erklärt. Ana entspricht auch sonst keinen Konventionen. Auf der Bühne steht sie in Straßenklamotten, anfangs auch eher unorganisiert und ein wenig schludrig.
Weshalb ich mich auch zunächst mehr für die Band interessiere, die sich als jung und ultrakompetent erweist. Drums, Bass und eine funky E-Gitarre, mehr braucht es nicht, um das Merlin in einen schwülen Beach Club an der Copacabana zu verwandeln – auch weil die brasilianische Community sich vielköpfig eingefunden hat.
Ana bedient zeitweise die Tasten und singt zunächst eher zurückhaltend, wie man das ja auch von bekannteren Brasilianerinnen aus den 60ern kennt. So gerät die erste Konzerthälfte zu einem cool und slick groovenden Laidback-Vergnügen. Die Band spielt ebenso elegant wie perfekt, der dezente Tropicalia- Groove ist unaufdringlich und sophisticated. Ihre Landsleute bejubeln fast jeden Song aus ihren bislang drei Alben schon mit den ersten Tönen, die Stuttgarter Auskenner*innen sind wie erwartet zahlreich präsent und nicken anerkennend zum entspannten Groove.
Mit jedem weiteren Song merkt man dann erst, was die Frau für eine sagenhafte und ungewöhnliche Sängerin ist. Latent jazzgeschult und doch mit ganz anderer Haltung. Ihr Timing ist bewundernswert, die Phrasierung messerscharf. Und sie taut angesichts des zunehmend begeisterten Publikums dann auch schnell auf. Dazu zaubert sie aus ihren beiden Keyboards die allerschönsten Vintage-Sounds und spielt dabei keinen Ton zu viel.
Ihr nonchalantes Stageacting und auch Stil und Erscheinung lassen nicht nur mich an Jaimie Branch denken. Dennoch ist ihre Musik weder Jazz noch auch nur ansatzweise avantgardistisch. Viel mehr erklingen die wunderbar süßlichen Harmonien brasilianischer Popmusik aus den 70ern und 80ern. Rund und weich, dazu in dieser fantastisch wohlklingenden Sprache gesungen – von einer wohldosiert expressiven Gesangskünstlerin mit lässigem Understatement performt, der man förmlich an den Lippen hängt.
In der zweiten Konzerthälfte wird der Schalter auf Party und Dancefloor umgelegt, nachdem man das erfreulich junge Publikum zunächst ein wenig zappeln lassen hat. Jetzt kommt deep groovender Uptempo-Disco-Funk, mit wirklich lustiger Mitsing-Animation. Da rutscht dann auch mal ein samba-housiges Crystal Waters-Cover („Gypsy Women – She’s Homeless“) durch.
Den Namen der auf die Bühne eingeladenen Gastsängerin habe ich nicht verstanden, denn gegen Ende herrscht gutgelaunter Partytrubel – aber immer mit elegantem Brasil-Vibe – der für allgemeine Begeisterung sorgt. Auch am Merchstand ist das Gedränge beeindruckend. Wahrscheinlich hätte dieses ebenso ungewöhnliche wie beeindruckende Konzert auf der großen Festival-Bühne nicht so gut funktioniert wie im südamerikanisch temperierten Merlin.
Bleibt noch festzuhalten, dass meine vergangene Konzertwoche so herausragend und im weiteren Sinn auch openminded jazz-kompatibel war, dass ein Großevent wie die Jazz Open mit den immer gleichen Bookings umso reizloser wirkt. Herzlichen Dank also an dieser Stelle an die Verantwortlichen beim Forum der Kulturen – und beim Merlin sowieso.
