THE LITTMANN SESSIONS: EINE POP-GALA, 22.06.2024, Staatsoper, Stuttgart

Das könnte jetzt ein neuer Anfang sein
Rauschen im Kopf und die fehlende Routine
Wir sind der Erde gleich
Laima Adelaide vertreibt mit ihrem geloopten Rauschen und echoschwingenden Clicks die sich einsingende Mezzosopranistin Maria Theresa Ullrich vom Flügel – das ist inszeniert. Und dann die ersten Operbesucher vom Parkett – ist das intendiert? Sicher nicht, wenn auch einkalkuliert:

„Einen Abend lang macht das Pop-Büro die unglaubliche Bandbreite der regionalen Musikszene in der Oper greifbar. Bei Live-Konzerten der aktuellen Pop-Stipendiat*innen auf der großen Bühne im Opernhaus – dem sogenannten Littmann-Bau – erstrahlen dabei experimentelle Klänge, bewegende Rhythmen und aufrüttelnde Bässe in neuem Gewand!“ heißt es in der Ankündigung zu den Littmann Sessions, und die technoide Einführung hält Wort. Der Stuttgarter Pop darf auf die feinste, edelste und pompöseste Bühne der Stadt. Und das bringt so manch überraschende Sichtbarmachung mit sich. Eine erstaunliche und begeisternde Kooperation der Staatsoper Stuttgart und Pop-Büro Region Stuttgart.

Im ersten Teil des Abends stellt Musikmoderatorin Anka Ebel zunächst die auftretenden Künstler vor, die abwechselnd ihre Songs und Tracks darbieten. Abenaas Rap dreht sich um Rassismus oder Patriarchat oder beides, beißend pointiert und für alle verständlich durch den Einsatz der im Operinstrumentarium üblichen Obertitel. Ein echter Mehrwert, auch wenn es wehtut, weil man ja jetzt das alles versteht, was die ghanaisch stämmige Sängerin anprangert.

Bei Zweilasters Lied “Goldsaft” bleiben dann die Obertitel allerdings beim Wort „Pisse“ stehen, der volle Text wird dem Publikum nicht vergönnt. Der Kontrast zwischen dem opulenten Opernsaal und dem Duo Zweilaster, die mit ihrer kindlich-kindisch-naiv-trashig-schmerzvollen Alltagslyrik und ihrem dilettierenden Musikspiel aus E-Gitarre und Schlagzeug die Zuhörer ordentlich herausfordern, ist ein erster Höhepunkt. Vielleicht ist es für manche Zuhörer aus der Opernfraktion auch ein erster Tiefpunkt, schwer zu sagen, es verlässt jedenfalls keiner den Saal, das ist ein gutes Zeichen.
Norma, Norma, mach mir mein Tag klar
Gemeint ist der Discounter.

Für den wie üblich queer geschminkten Levin Goes Lightly passt der Ort wiederum perfekt. Mit großer Geste lässt er den Perlvorhang und die gigantische Discokugel herunterfahren, mit großer Geste trägt er seine Post Punk und New Wave Balladen vor, die schon immer etwas opernhaftes hatten:
Die Geschichte ist süß und wir verletzlich,
Realität beständig und entsetzlich

Solange die einen Künstler performen, sitzen die Moderatorin, die Sopranistin und die anderen Künstler auf Sesseln und Sofas, wippen, tanzen oder kostümieren sich neu. Beim Wechsel werden zwischen ihnen kleine Interaktionen angedeutet. Regisseurin Daniela Victoria Kiesewetters Inszenierung hat in den guten Momenten etwas Leichtes und Spielerisches, in den nicht so guten etwas Bemühtes.
Schön ist es zu sehen, wie die Auftretenden die Oper zu ihrer Bühne machen. Andersherum kennt man das: Opern werden in einer alten Industriehalle oder dergleichen gezeigt, um der Inszenierung mehr Ausdruck zu verleihen, um etwas Besonderes zu bieten. Hier ist es andersherum, hier erhält der Pop einen hochkulturellen Rahmen, der Pop wird durch den wunderschönen Saal geschmückt, verziert, veredelt, auf ein Podest gehoben. Ist das schon ein Readymade in Duchamps Sinne? Die Wirkung ist jedenfalls verblüffend.

Eklatant ist die Diskrepanz zwischen dem Produktions- und Serviceniveau eines Clubkonzerts und dieses Opernabends: Während im Club vor einem alten Mollton gespielt wird, werden hier für jeden Song die Vorhänge gewechselt. Während im Club der Drummer seine Tom Toms selbst aus dem Tourbus auf die Bühne wuchtet, werden hier die Drumsets auf rollbaren Podesten vom Bühnenpersonal akkurat an die richtige Position geschoben. Während einem im Club die Jacke geklaut wird, sind hier für die Aufbewahrung drei Damen an der Garderobe zuständig. Und das Thema auskömmliche Gagen wäre ein weiteres Kapitel in diesem Kontext. Klar ist, dass Oper finanziell getragen werden muss, ansonsten könnte sie nicht stattfinden. Schöne wäre es, wenn sich diese Haltung auch stärker für den Pop durchsetzen würde. Nun, Abende wie diese tragen dazu bei. An dieser Stelle: Danke an die Staatsoper und an das Pop-Büro für die heutige Sause!

In der Pause wird anhand Kleidung und Mienen deutlich, dass das Publikum aus beiden Lagern, Operngängern und Popanhängern, ähnlich stark vertreten ist. Es ist übrigens ausverkauft. Nach der Pause kommen nicht alle zurück, aber die allermeisten bleiben, um nun die Punk-Noise-Rock-Oper Die Nerven erleben zu können. In der Wikipedia-Definition zu Oper heißt es:
„Eine Oper besteht aus der Vertonung einer dramatischen Dichtung, die von einem Sängerensemble, einem begleitenden Orchester sowie manchmal von einem Chor und einem Ballettensemble ausgeführt wird. Neben dem Gesang führen die Darsteller Schauspiel und Tanz auf einer Theaterbühne aus, die mit den Mitteln von Malerei, Architektur, Requisite, Beleuchtung und Bühnentechnik gestaltet ist.“

Die Nerven bieten all dies, obwohl die drei letztlich ihr bekanntes, etwas verkürztes Set spielen:
- Dramatische Dichtung: „Immer nur dagegen / Aber gegen was? / Lass alles los, gib alles frei / Nichts bleibt“
- Sängerensemble: Max Rieger, Julian Knoth
- Orchester: Max Rieger (E-Gitarre), Julian Knoth (Bass), Kevin Kuhn (Schlagzeug)
- Chor und Ballettensemble: Kevin Kuhn (Co-Gesang und Ausdruckstanz)
- Schauspiel und Tanz: Max Rieger (Schwermut), Julian Knoth (Arbeit), Kevin Kuhn (Freude)
- Mitteln von Malerei, Architektur, Requisite, Beleuchtung und Bühnentechnik: fantastisches Lightdesign, das über gekonnten Photoneneinsatz alle Mittel bedient
Das Konzert hat alles, was eine Oper braucht: Drama, Liebe, Kampf, Verzweiflung, Hoffnung, Witz, Poesie, Ekstase, Stille.

Passend zum Pop in der Oper heißt es im Song „Wir sind der Erde gleich“:
Das könnte jetzt ein neuer Anfang sein
Rauschen im Kopf und die fehlende Routine
Wir sind der Erde gleich
Die Staatsoper Stuttgart und das Pop-Büro Region Stuttgart haben bereits den nächsten Termin festgemacht: Samstag, 5. Juli 2025. Karten gibt es ab 8. Juli 2024.
Rauschen im Herz und die kommende Routine.

Danke dafür! Das muss ein wirklich spannender Abend gewesen sein. (Ganz verstehe ich die Haltung, in der Pause zu gehen, nicht. Die gibt es ja auch bei Opernabenden.)