TEODOR CURRENTZIS, SWR SYMPHONIEORCHESTER, BENJAMIN BRITTEN „WAR REQUIEM“, 07.06.2024, Liederhalle, Stuttgart
Ein persönlicher Abschied von Teodor Currentzis, dem Leiter des SWR-Symphonie-Orchesters von 2018 – 2024
Teodor Currentzis dirigert sein Abschiedskonzert mit dem SWR-Orchester in Stuttgart mit Benjamin Brittens „War Requiem“ für Sopran, Tenor, Bariton, Knabenchor, Chor, Orchester, Kammerorchester und Orgel im ausverkauften Beethovensaal der Liederhalle am Donnerstag, den 6.6. und am Freitag, den 7.6.2024.
Mein eigene musikalische Erstbegegnung mit Teodor Currentzis waren seine Studio-Einspielungen der Mozart-Opern „Don Giovanni“, „Le nozze di Figaro“ und „Così fan tutte“.
Noch nie zuvor hatte ich die einzelnen Schichten von Mozarts Musik so klar herausgearbeitet gehört, noch nie zuvor hatte ich so unmittelbar gespürt, wie in Rhythmus, Melodie, Schmelz und Schmerz ineinandergreifen. Ich jedenfalls war von seinen Einspielungen mit dem jungen verrückten Ensemble MusicAeterna restlos begeistert – und als dann Currentzis 2018 nach Stuttgart kam, waren meine Freude und Aufregung groß. Wie viele Abende gab es spannende Diskussionen nach einem Konzert mit ihm! Berauschende, unvergessliche Aufführungen und berührende Einblicke in Currentzis‘ Arbeit bei den öffentlichen Proben.
Wenn ich mich heute Abend umschaue im Saal, spüre ich, dass jeder seine individuelle Hörerlebnis-Beziehung mit Teodor hat. Auch Kai Gniffke, der Intendant des Südwest-Rundfunks (und ARD-Vorsitzender) stellt dem Konzert nun seine eigenen Begegnungen mit Teodor Currentzis in einer sehr persönlichen Abschieds- und Dankesrede voran. In ihr feiert er den neuen „spirit“, den das (aus zwei Orchestern geeinte) SWR-Symphonieorchester mit Currentzis nun atme. Currentzis habe ein Weltklasse-Orchester geeint, geformt, gefordert und inspiriert. Aber Gniffke verschweigt auch nicht, dass die letzten Jahre mit Currentzis nicht immer einfach oder bequem waren: „Die Frage des Krieges und des russischen Einmarschs stand vom 24. Februar 2022 an im Raum und diese Frage drohte uns zu spalten“, so Gniffke. Dennoch überwiegt seine riesige Dankbarkeit für diese Jahre, in denen Currentzis mit seiner Arbeit das Publikum verblüfft, verzaubert und das Orchester auf das allerhöchste künstlerische Niveau gebracht hat: „Danke, verehrter Maestro, 1000 Dank, lieber Teodor.“
Das „War Requiem“ von Benjamin Britten aus dem Jahre 1962 vereint in seinem Titel seine beiden sprachlichen Bestandteile: Einerseits stützt sich dieser Abgesang auf den Krieg auf den traditionellen lateinischen Text für eine Totenmesse. Andererseits aber legt Britten berührende Gedichte darüber, die von dem in den letzten Tagen des 1. Weltkriegs gefallenen, 25-jährigen Dichter Wilfred Owen (1893 – 1918) stammen.
Wie ein Monolith steht das Werk da – und in seiner großen, umfangreichen Besetzung auch wie ein ganzes, gemeinsames Hinstehen gegen Krieg und Gewalt: SWR-Vokalensemble und London Symphony Chorus (zusammen 100 Sängerinnen und Sänger) ergeben einen enormen Klangkörper auf der Empore oberhalb des Orchesters. Zusätzlich hat auch ein Jungenchor (Collegium Iuvenum Stuttgart) ganz hinten im Beethovensaal oben auf der Empore hinten seinen Platz und gesellt sich aus der Ferne zum Gesamtklang dazu.
Mittendrin im vollbesetzten Orchester, fast wie eine Schaltzentrale, wie ein Herz, beherbergt das Orchester noch ein Mini-Orchester inklusive Harfe und Pauke! Dieses Kammerorchester begleitet nur die Solisten: „Brittens Idealvorstellung bestand darin, die Solistenrollen mit Künstlern aus jenen Nationen zu besetzen, die am meisten unter dem Krieg, in diesem Fall dem Zweiten Weltkrieg, gelitten hatten: Neben einer Russin (Galina Wischnewskaja) hatte er einen Engländer (Peter Pears) und einen Deutschen (Dietrich Fischer-Dieskau) auserkoren“ (aus dem Programmheft). Mit der Besetzung der russischen Sopranistin Irina Lungu, Matthias Goerne als deutschem Bariton und des britischen Tenors Allan Clayton wird dieser völkerverbindende Gedanke auch heute Abend gelebt.
Und endlich geht es los.
Requiem aeternam dona eis, Domine – Die Ur-Bitte um „ewige Ruhe“ gestaltet Currentzis natürlich ganz bewusst: Die Streicher spielen mit Dämpfer, der alle grellen Nuancen wegnimmt und das Geisterhafte dieses Anfangs unterstreicht. Gespenstisch erheben sich über Glockenklängen die Stimmen des Chores, zuerst wenige, werden schließlich zu einem einzigen Chor und fordern eindrücklich: et lux perpetua luceat eis – und das ewige Licht leuchte ihnen! Der beruhigend bekannte, ritualisierte lateinische Text wird durch Owens Verse immer wieder gestört – und wir im Publikum verstört:
Welche Totenglocken läuten denen, die wie Vieh sterben? Nur die ungeheure Wut der Geschütze, nur das Knattern ratternder Gewehre kann hastige Gebete herunterrasseln.
In diesem Spannungsfeld hält uns das Werk den ganzen Abend über gefangen: Sehnsucht nach Frieden, ein Ausstrecken nach Transzendenz auf der einen Seite – und die unmenschliche Brutalität in den Schlachtfeld-Schilderungen auf der anderen Seite. Chor, Sopran und das große Orchester übernehmen den Requiemtext, die Owen-Einfügungen die beiden männlichen Solisten. Sie stehen für einen englischen und deutschen Soldaten und – schön zu hören – klingen auch ganz unterschiedlich: Matthias Goerne kennt man in seinem warmen, runden Lied-Ton, Allan Clayton fasziniert mit seiner Direktheit eines klaren, hellen, ansprechenden Tenors. Stimmlich beeindruckt Irina Lungu von den dreien am wenigsten: Ihr großes Timbre und opernartiges Hochziehen der Töne lenken eher ab.
Aber dafür nehmen mich die Vokalpassagen der Chöre gefangen – die Präzision, mit der hier gearbeitet wurde (Yuval Weinberg, Mariana Rosas und Sebastian Kunz haben mit den Chören das Werk einstudiert) ist deutlich zu hören: Perfekt ausbalanciert ist der Klang der Masse, geschmeidig greifen die Passagen ineinander und sind dennoch unglaublich ergreifend und direkt. Nicht professionell heruntergesungen, sondern im Moment erlebt. Die Bitte um Erbarmen (Kyrie eleison – Christe eleison – Kyrie e-l-e-i-s-o-n) wird vor allem gegen Ende (wieder so ein Currentzis-Moment) nachdrücklich ausbuchstabiert. Deutlicher geht es nicht mehr – auch in der Botschaft. Und Currentzis betet jeden Buchstaben mit.
Im DIES IRAE (Tage des Zorns) beeindruckt der Chor mit seinen von Pausen zerrissenen Silben; atemlos wird die Menschheit vorangepeitscht. Die Blechbläser hört man hier als Posaunen des Jüngsten Gerichtes, aber eben auch als heulende Einschläge von Granaten auf dem Schlachtfeld. Das Werk liegt Currentzis. Das spürt man gut – es bietet zig Möglichkeiten, seine Spezialfelder umzusetzen: Sphären ausloten, noch eine Ebene hinzufügen, Tempo, Klangfarbe oder Spannungsbögen ganz neu gestalten.
In einem kleinen Werbefilmchen für die Aufnahme der Mozartopern sagt er an einer Stelle:
„Every performance you give is a kind of pregnancy – and you have to dream and you have to wait the time until you will see the miracle happening.“ (Jede Aufführung hat etwas von einer Schwangerschaft – man muss träumen und abwarten können, bis dann das Wunder erlebt werden kann).
Das War Requiem schildert am Ende, wie sich die beiden früheren Feinde im Totenreich begegnen und erkennen:
I am the enemy that you killed, my friend.
Das allerletzte Wort hat der lateinische Text: requiescant in pace – mögen sie in Frieden ruhen. Amen.
Currentzis dehnt das AMEN unendlich lange aus. Er hält es immer noch, verschiebt es ins Transzendentale und hält es weiter auf der letzten Silbe, bis der Konsonant das Wort eigentlich abschließen müsste. Doch auch auf dem „n“ lässt er es weiter klingen und weiter und weiter. Und als das „Amen“ doch irgendwann verklungen ist, halten wir alle den Atem an. Die ganze Liederhalle spürt, wir sind noch mitten im Stück. Wir sind Teil des War Requiems. Stille. Lange, gehaltene Stille. Eine ganze Minute lang – the miracle is happening.
Großer, dankbarer, aber auch erschütterter Applaus. Kein Wohlfühl-Rausschmeißer, sondern ein ernster, aufrechter Appell an die humanitäre, an die verbindende Macht der Musik.
Danke für viele Wunder, Teodor Currentzis.
Sie sprechen mir aus dem Herzen, vielen Dank für die Schilderung der feinen Nuancen! Sehr, sehr schade, dass Teodor Currentzis das SWR Orchester verlässt.