MODULAR, MAUSTETYTÖT, SEXTILE, 17.05.2024, About Pop Festival, Im Wizemann, Stuttgart
Um 15.30 Uhr beginnt das Konzert der (Wahl-)Hamburgerin Selina Hamers aka Modular im sehr gut gefüllten Studio. Modulars Sound gehört für mich zum spannendsten, was die „Neue Neue Deutsche Welle“ aktuell so zu bieten hat. Unter diesem Label lassen sich natürlich vielfältige Referenzen aus den Achtzigern des letzten Jahrhunderts anführen, aber nicht unbedingt die, die einem so als Erstes in den Sinn kommen, wie zum Beispiel Nena und Konsorten. Hamers Bezugspunkte sehe ich eher in der ursprünglichen NDW, die sich Ende der 1970er formierte. Modular erinnert mich vielmehr an Bands wie Malaria, Fehlfarben und Hans-A-Plast. Musik also, die nicht auf leichten kommerziellen Erfolg aus war, Musik, die vielmehr eine Gegenposition zum bürgerlichen Konsens einnehmen wollte, düsterer war und, wie im Punk, sich „No Future“ auf die Fahnen schrieb, da schon damals erste dunkle Wolken am Zukunftshorizont aufzogen.
Somit passt der kritische Sound perfekt in das Setting des großartigen About Pop, das weit mehr ist als ein reines Musikfestival. Hier werden auf kongeniale Art, Musik und zeitrelevante Themen miteinander verknüpft.
Und kaum nachdem Hamers mit ihrem Gitarristen Max die Bühne geentert hat, wird auch schon klar, was ihren Sound so spannend macht. Es sind Computerbeats, die zwischen Kälte und Wärme oszillieren, die uneindeutig sind und somit das nicht greifbare unserer Welt reflektieren. Auch ihr Gesang tut dies ganz wunderbar, der sowohl zurückhaltend als auch extrem präsent ist. Sehnsucht schwingt mit, eine Sehnsucht nach Respekt und Liebe, nach Akzeptanz für das anders sein und danach sich umeinander zu kümmern. Hier zeigt sich, wie politisch Pop sein kann, wie man sich mit Musik (mit Kunst im Allgemeinen) gegen soziale Kälte und Diskriminierung einsetzen kann, wie Pop Möglichkeitsräume für das Bessere zu erschaffen vermag und somit das Potenzial zur Utopie besitzt. All dies und ihr Aufruf nach Liebe lässt sich perfekt mit Modulars treibenden Beats und der exaltiert ausgelassenen Bühnenperformance feiern.
Modular tanzt, das Publikum tanzt; wir können, ja wir müssen tanzen, gerade auch in, ich sag mal, „nicht ganz einfachen Zeiten“, bedeutet es doch, dass es noch Menschlichkeit und Hoffnung gibt. Mit der Coverversion des „Polarkreis 18“ Hits „Allein Allein“ schafft sie einen Spagat zwischen Melancholie und Freude und die euphorisierte Menge stimmt glücklich in den Gesang mit ein. Ein wunderbarer Gig ist das hier, mit einer intensiven Bühnenpräsens bei der nichts aufgesetzt wirkt, ausgesprochen sympathisch und authentisch! Für mich ist das der perfekte Start in meinen heutigen Festivaltag und als dann gegen Ende des Sets mit dem Song „Signalverlust“ purer 80er New Wave at its best serviert wird, dunkel und extrem tanzbar, bin ich vollends zufrieden.
Ganz anders dann die um 19 Uhr auf der Open Air Bühne aufspielenden, aus Finnland stammenden Schwestern Anna und Kaisa Karjalainen. Bereits 2017 gründeten sie ihre gemeinsame Band Maustetytöt (was soviel wie Gewürzmädchen heißt), mit der sie schnell zu einer festen Größe der finnischen Indie-Szene avancierten. Aber erst durch die Zusammenarbeit mit dem finnischen Kult-Regisseur Aki Kaurismäki, für dessen Film „Fallende Blätter“ im letzten Jahr, wurden sie über die Landesgrenzen hinaus bekannter. Leider haben sie nicht gerade freiluftbühnentaugliches finnisches Wetter mitgebracht, aber dies wahrscheinlich um sich hier in Stuttgart heimisch zu fühlen. Dieser Dauerregen und die nicht wirklich frühlingshaften Temperaturen passen zu ihrem Konzert. Gleich von Anfang an ist klar, die große fröhliche Bühnenshow wird das nicht werden.
Mit stoischem Gesichtsausdruck und nahezu bewegungslos, stehen sie auf der Bühne, Anna mit Gitarre, Kaisa hinter ihrem Keyboard, um ihren narrativen, fast gelangweilt wirkenden Gesang mit reduziertem Sound vorzutragen. Leider kann ich, mangels Kenntnis des Finnischen, nichts zum Inhalt der Songs sagen. Nebenbei äußert sich Kaisa zum Thema Sprachverständnis: Es wäre ja schon ziemlich seltsam, dass das Publikum zu einer Band gehen würde, deren Texte es nicht versteht. Trockener finnischer Humor mit einem ausgeprägten Sinn fürs Absurde. Der Auftritt der beiden Schwestern ist eh sehr eigen, so viel Lakonie muss man erstmal hinbekommen; und von einer Performance kann man nicht wirklich sprechen, eher von einer Nicht-Performance, aber wenn man sich darauf einlässt, hat dies zugegebenermaßen einen ganz eigenen Charme. Die finnischen Spice Girls ohne choreografierte Dance Moves.
Ein auf das Notwendigste beschränktes, ja schon minimalistisches Gesamtkunstwerk. Mit sporadisch hinzugefügten Halleffekten schaffen sie es aber trotzdem eine gewisse klangliche Tiefe zu erzeugen. Also ostentative Fröhlichkeit ist das jetzt nicht gerade, schon eher die Vertonung der Tristesse. Aber das ist halt mein ganz subjektives Empfinden, denn wie meint die Keyboarderin: eigentlich würden sie schon ganz fröhliche Musik machen, aber für einen Massenselbstmord wäre sie natürlich auch geeignet. Musik und Wetter gehen zunehmend eine immer engere Symbiose ein und so langsam wähne ich mich im finnischen Frühling, durchnässt das Wetter genießend, um am warmen Kamin von einer heißen Tasse Kaffee zu träumen. Das Leben ist halt düster, aber schon irgendwie ganz okay…
Aber genug der Gemütlichkeit, schnell rein ins Wizemann und zurück ins warme Studio zu Sextile, die pünktlich um 19 Uhr beginnen. Apropos pünktlich, hier sei auch mal die extrem gute Orga des Festivals erwähnt! Warm wird es schnell, richtig schwitzig gar und das nach nur wenigen Minuten. Ohne groß einen Spannungsbogen aufbauen zu wollen, schlägt der Energiepegel sofort voll aus. Die Elektropunks aus Los Angeles liefern ab der ersten Minute ein intensives Set aus Post-Punk-Gitarrenarbeit, harten Industrial-Klängen und amphetamin-schwangerem Rave. Subtil ist das beileibe nicht, aber trotzdem ziemlich geil. Voll auf die Zwölf! So muss das sein, um Party zu machen, verschwitzter Körper an verschwitztem Körper, moshen, hüpfen, tanzen. Ziemlich atemlos. Der Körper im Darkwave- und EBM-Gewitter, reine Ekstase. Die harten Beats vom Drumcomputer werden übereinander geschichtet und immer wieder mit den Vocals von Brady Keehn und Melissa Scaduto durchbrochen.
Viel mehr kann ich dazu auch nicht sagen, muss man aber auch nicht. Was hier zählt, ist der Moment der Verausgabung. Nicht mehr und nicht weniger. Nach erschöpfenden und sehr glücklich machenden 45 Minuten muss ich jetzt erstmal an die Bar, um meinen Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung zu bringen und um mich mit verdammt guten veganen Tortellini zu stärken, denn der Abend ist noch jung und weitere sehr spannende Acts warten, aber über die werden die Kolleg*innen berichten …