LIA J, ENJI, 18.05.2024, About Pop Festival, Stadtbibliothek, Stuttgart
Ganz weich und wohlig wird es mir im kahlen Foyer im Erdgeschoss der Stadtbibliothek schon bei den ersten Tönen von „Levitate“ von Lia J. Draußen ist der Samstagswahnsinn rund um Stuttgarts größtes Einkaufszentrum im vollen Gange und hier drin in der Bücherei sah es auch erstmal beim Reinkommen nach einer Mischung aus Jugendgottesdienst und der kompletten Shopping-Erschöpfung aus. Wer zufällig gerade da ist, um sich kurz zum Ausruhen an den Rand der Halle zu setzen oder absichtlich mit dem About Pop-Bändchen am Handgelenk dabei, spielt jetzt eh keine Rolle mehr. Der Eintritt ist in diesem Fall frei. Danke dafür!
Lia J und ihre kleine Band stehen auf der Bühne mitten im Raum, der Sound ist auf den vollen 360 Grad außenherum sehr klar – dafür gibt es berechtigtes Lob an die Veranstaltungstechnik. Die junge blonde Frau mit dem bunten Hemd spielt „Alternative RnB, Indie-Pop & Latin Rhythms“ mit englischen und spanischen Texten. Ihre Stimme ist laut und klar, ihre Fender Telecaster hat sie einwandfrei im Griff und auch das Publikum wird direkt mit eingebunden. „Somewhere in the Carribean“ handelt von guten Gefühlen im Urlaub, „Sober“ davon, wie sehr der Leistungsdruck die Gesellschaft im Griff hat und welche Fluchten uns oft nur bleiben. Das halbstündige Set geht wie im Flug vorbei, die großen und kleinen Zuschauer*innen wippen und singen – wenn auch zaghaft – mit.
2023 hat die Heidelbergerin als Talent an der About Pop teilgenommen, da ist der Gig in der Bücherei nur die logische Konsequenz, denn sie weiß offenbar wo sie mit ihrer Musik hin will und bringt das auch toll rüber! Ein paar Leute stecken auch während dem Abbau noch die Köpfe aus den kleinen Fenstern aus den Treppenhäusern rund ums Foyer und die Festival-Gäste machen sich jetzt auch auf den Weg in den 6. Stock der Bibliothek.
„Krimis, Lyrik, Dramen“ sind die Genres, die in diesem Teil des „most-instagrammable place“ Stuttgarts zu finden sind – der riesige Raum im Inneren des Beton-Würfels mit den strahlendweißen Treppen und den bunten Büchern wird auch nach über 10 Jahren nicht langweilig und ist inzwischen auf der ganzen Welt berühmt. Das Equipment von Enji und ihrer Band steht direkt vor den Regalen in einer Ecke der Ebene 6 bereit. Es ist eine Premiere, dass gleich im Innersten des Gebäudes musiziert wird.
Mit geschlossenen Augen trägt Enji die ersten geflüsterten Zeilen ihres ersten Songs „Zuud“ vor, ihre Fingerspitzen berühren dabei vorsichtig den Mikrofonständer. Paul Brändle an der Gitarre und River Andomeit am Kontrabass steigen langsam mit ein und begleiten sie perfekt durch ihre einstündige Darbietung. Ohne Schlagzeug geht es hier jetzt sehr deutlich von der poppigen Popmusik weg zum Jazz, aber bleibt dann doch innerhalb der üblichen Hörgewohnheiten der Festivalbesucher*innen, die sich zahlreich auf den Lese-Sofas und an den Geländern einfinden.
Enji, Enkhjargal Erkhembayar mit vollem Namen, hat vielleicht die ungewöhnlichste Geschichte aller Künstler*innen der diesjährigen About Pop: Sie wuchs in einer Jurte in UIaan Batoor auf und nahm dort an einem Förderprogramm des Goethe-Instituts teil, während dem sie ihre Liebe zu Jazz entdeckte. Sie lebt inzwischen in München und hat bereits ihr drittes Album veröffentlicht. Auch beim wunderschönen „Internet-Format“ COLORS war sie schon zu sehen.
Nun schwebt ihre selbst komponierte Musik durch diesen riesigen Raum voller Literatur. Wie schon im Erdgeschoss reißt dabei der Fluss an Besucher*innen, die das Gebäude nicht zum Lesen und Ausleihen, sondern zum Gucken und Fotos machen betreten, nicht ab. Enji singt unbeeindruckt zu ihren abwechslungsreichen Melodien, mal bubbly, mal pompös. Manchmal verbindet sich das gut mit dem lautlosen Rhythmus der Treppensteigenden, manchmal nicht. Es ist aber zu jedem Zeitpunkt atemberaubend schön. Bei mir werden Erinnerungen an das Bergkonzert mit Ichiko Aoba wach (Gig-Blog berichtete), aber einen Sonnenuntergang zum krönenden Abschluss gibt es hier drinnen definitiv nicht.
Um Heimweh geht es unter anderem ihren Songs, die Enji größtenteils auf Mongolisch singt. Wir bekommen hin und wieder eine Erklärung auf Deutsch, denn auch das spricht Enji perfekt. Ihr rotes Oberteil mit kleinen weißen Stickereien passt makellos zu der roten Reihe Bücher hinter ihr. Bei dieser Performance stimmt alles, auch die kleinen Gesten, mit denen sie mit den wunderbaren Musiker*innen kommuniziert.
Ein einziges Mal in der ganzen Stunde voller sich immer wieder abwechselnden schnellen Scats und langgezogenen, ganz nach oben unter die helle Decke des Raumes steigenden Gesängen und Tönen, kommt von irgendwo ein „Schhhh“ durch den Raum gezischt (das aber sicher nicht der Band galt!). Aber zum Glück haben sich die Stadtbibliothek und das Popbüro getraut, Live-Musik hier hereinzuholen. Es ist ein sehr beglückendes Erlebnis, diesen Gig an diesem tollen Ort erleben zu dürfen.
Enji
Lia J
