SIDO, 07.11.2023, Porsche Arena, Stuttgart

Der Rapper SIDO am 07.11.2023 in der  Porsche Arena, Stuttgart.
Foto: Madita Nair

Ich bin zweiundvierzig Jahre und die Tage waren wie Atmen unter Wasser.
Darum sitz‘ ich an der Bar, volles Glas, volle Nase, völlig kafa.

Vor vier Jahren haben wir das letzte Mal über SIDO aus der Porsche Arena berichtet und es zählte damals zu einem der besten Konzerte, die ich live miterleben durfte. Die Gegenwart verspricht erneut einen coolen Abend. Bevor in ein paar Wochen die Weihnachtsmärkte mit ihren zarten, zimtigen Glühweindüften zu einem überteuerten Stelldichein locken, ist es heute der verlockend süße Marihuana-Dunst, durch den man zum Eingang der Porsche Arena wandelt. An der Abendkasse zeigt sich heute auch das Interesse der schwäbischen Prominenz in Form von Almklausi, bekannt aus kulturell wertvollen RTL Bildungsprogrammen wie z.B. „Das Sommerhaus der Stars“. SIDO muss natürlich heute abliefern unter den Augen eines Lyrikers, der der Welt die Antwort auf die Frage lieferte:

Wie heißt die Mutter von Niki Lauda?
Mama Laudaaa!

Wenden wir uns wieder Bedeutsamerem zu. Ich habe mir vor dem Konzert noch einmal den Bericht von 2019 durchgelesen und mir die Bilder vom Open Air Auftritt im Rahmen des Stuttgarter Konzertsommers 2022 ins Gedächtnis gerufen. SIDO ist sicherlich nicht das deutsche Pendant zu Eminem, der in meiner Jugend der erste Kontakt zum Hip Hop war. Da liegen Welten dazwischen. Doch was SIDO und Eminem in meinen Augen immer verbindet, ist es, den Finger unverblümt in Wunden zu drücken, lyrische Schellen zu verteilen und zwischendrin immer mal wieder den Clown zu spielen. Das ist real und wird von der ausverkauften Porsche Arena goutiert.

Der Rapper SIDO am 07.11.2023 in der  Porsche Arena, Stuttgart.
Foto: Madita Nair

Doch bevor der Clown hereingestoßen wird, stürmt ein vermeintlicher Klimaprotestant die Bühne und bietet allen Autofahrern seine Fäuste an. Eine fürs Herz und die andere in die Fresse. Zu Recht wird der Mann durch die Security von der Bühne geholt, bevor er den Klebstoff auspackt. Natürlich war das ganze nur ein Scherz. Wenn innerhalb von Sekunden die Massen zu pfeifen und buhen beginnen, hat dieser jedoch gezündet.

Dennoch – Zeitverschwendung, Licht aus – Bass hochdrehen. Wenn du als Opener einen deiner größten Hits an den Anfang deiner Setlist setzen kannst, dann ist das eine sichere Nummer. Mit Joint in der Hand, im weißen Gucci Seidenhemd und die roten Augen versteckende Sonnenbrille haut SIDO gleich zu Beginn – mit der Unterstützung seines DJs Desue an den Plattenspielern und Mikro „Bilder im Kopf“ raus. Bei den letzten beiden Konzerten war Sido schon ab dem ersten Song heiser – heute sollte das erst ab ca. der Hälfte eintreten.

Von den ersten 4 Songs „Löwenzahn“, „Fuffies im Club“ und „Ackan“ wird jeweils nur die erste Strophe angespielt, was bei einer Setlist mit 37 Songs (!) verzeihbar ist. Der Sound drückt und Sido sieht besser aus als noch 2022. Diverse Drogenbeichten in verschiedensten Medien und das relativ neue Album „Paul“ haben einen kleinen Einblick gewährt, dass Kiffen nur noch zur Nebensache wurde und Stärkeres herhalten musste. Fazit: Entzug und Frau weg.

Lass mich mal atmen, ich krieg keine Luft
Ich glaub, da sitzt ein Elefant auf meiner Brust
Weil ich mich jeden Tag entscheiden muss
Zwischen Leistungsdruck und Leistenbruch, nur dass das keinen juckt.

Der Rapper SIDO am 07.11.2023 in der  Porsche Arena, Stuttgart. 37 Titel auf der Setlist, Blicke
Foto: Madita Nair

Ich hab so vieles schon probiert
Übertrieben konsumiert
Ich hab das niemals kontrolliert
Nur die Gefühle konserviert

Vom Feeling her schlägt dieses Konzert, diese Tour einen anderen Ton an. Wir jubeln und applaudieren einem Menschen auf der Bühne zu, der uns bei ausschweifenden Partys hinter den Vorhang blicken lässt und im nächsten Song seine Seele vor uns auskotzt. Der uns aufzeigt, in welchen Höhen er schwebte, wie tief er gefallen ist und wie schnell das Leben sich um 180° wenden kann und einen fickt.  SIDO’s Worte, und das schätze ich mit am meisten an seinen Songs, treffen genau die Gefühle, die man oft selbst nicht aussprechen möchte, auch wenn man mit sich und dem Spiegelbild alleine ist. „Medizin“. Viel hilft viel? Sido haut einen Song nach dem anderen raus. So ein Konzert soll natürlich auch Positives mit sich bringen. Für dich. Für mich. Auch Sido bedankt sich mehrmals dafür, wie sehr er es vermisst hat, mit den Menschen vor der Bühne zu feiern und stellt dabei fest, dass nicht nur er, sondern auch seine Fans immer mehr graue Haare bekommen.

Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend
Meine Straße, mein Zuhause, mein Block.

Doch auch die Mädels und die Jungs mit den Zahnspangen aus der ersten Reihe wissen schon, in welchem Stock in seinem Block es das beste Gras gab. Nur die reichen Bonzen und Eltern in den hinteren Reihen, stellt er fest, haben keinen Bock mitzumachen. Dafür gibt’s die Mittelfinger.

Der Rapper SIDO am 07.11.2023 in der  Porsche Arena, Stuttgart.
Foto: Madita Nair

Jetzt lese ich mir gerade nochmal den Text durch und stelle fest, dass alles recht betrübt klingt. Platz für gute Laune ist natürlich auch in der Setlist.  „Monet“ und „Ne Leiche“ zelebrieren die „Haben“-Seite des Erfolgs. Hedonismus und Überheblichkeit – Zügellosigkeit und Grenzüberschreitungen. Doch immer, vor allem in den aktuelleren Songs, dem Resumé, dass es dafür auch wieder einen Nackenschlag gibt. SIDO weiß, welche Worte wirken. Wir feiern mit einem Menschen eine Party, der uns von all den Schweinereien und Exzessen berichtet, bei denen man gerne dabei gewesen wäre. Im nächsten Song bekommt man die Konsequenzen dafür ins Gesicht geschlagen und ist für einen kurzen Moment erleichtert, irgendwann doch im Leben auf die Bremse getreten zu haben.

Show vorbei, Vorhang zu, wir verneigen uns
Sex, Drugs and Rock’n’Roll, Scheidungsgrund
Scheißegal, ich bin aus Stein, nein, ich wein‘ nicht drum
Doch, wenn ich alleine bin, dann wein‘ ich drum.
Mein letztes Abendmahl hab ich bar bezahlt.
Gute Laune war einmal.Ziegelsteine auf dem Gaspedal.
Weiß nicht mal genau, wo ich hin will.
Vielleicht irgendeine Insel.
Ich hoffe, da gibt es keine Menschen,keine Ziele, keine Grenzen.

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