JOSS TURNBULL, SEBASTIAN BAUER, „prologue du tour“, 17.04.2023, Rakete, Stuttgart

JOSS TURNBULL, SEBASTIAN BAUER, prologue du tour, 17.04.2023, Rakete, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Ein halbdunkler Raum, schummrig rotes Licht, ein Mann mit einer persischen Kelchtrommel zur Linken, zur Rechten ein Rennrad auf einem Rollentrainer, darauf ein Radfahrer, der sich über das Vorderrad beugt und mit einem leisen „Pfft“ etwas Luft aus dem Reifen lässt. In der Halle vor dem Raum eine Zahnradbahn, die mit einem Pressluft-„Pfft“ antwortet. Viel skurriler kann ein musikalisches Happening kaum sein. Ok, das mit der Zahnradbahn war von den Künstlern nicht geplant, aber das Luftentweichen aus dem Rennradreifen ist nur eines von vielen wohlgesetzten Geräuschen, die heute Abend zu Gehör gebracht werden.

Percussionist Joss Turnbull und Rennradfahrer (und Regisseur) Sebastian Bauer sind heute zu Gast in der Rakete im Rahmen der „Montage-Reihe“. „prologue du tour“ heißt ihre experimentelle Installation und gut zwanzig neugierige Zuschauer:innen haben sich an diesen nasskalten Montagabend in dem kleinen Raum eingefunden, um diesem Event beizuwohnen.

JOSS TURNBULL, SEBASTIAN BAUER, prologue du tour, 17.04.2023, Rakete, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Was auf den Fotos auf den ersten Blick so aussehen könnte, als ob eine Art Galeerentrommler einen armen Radler antreibt, ist in Wirklichkeit ein äußerst subtiler musikalischer Dialog, der sich zwischen diesen beiden so unterschiedlichen „Instrumenten“ entwickelt. Anfangs nahezu unhörbar leise – da ist das Zischen eines durch die Luft sausenden Taktstocks das einzig Hörbare – steigern sich Tempo und Lautstärke immer mehr. Die Schaltgeräusche des Rennrads, das elegante Sirren der Kette korrespondiert mit den vielfältigen Bearbeitungen der Trommel durch Finger, Stäbe, Stimmgabeln oder verschiedene Gummi-Klöppel. Das Surren des Rollentrainers legt einen drone-artigen Grundton unter das Rhythmusgeflecht. Das läuft mal parallel, mal gegeneinander, das kollidiert und löst sich auf. Die Vielfalt an Interferenzen ist enorm, überraschende Wendungen gibt es im Minutentakt.

Was auf der Trommel quasi aus dem Handgelenk gezaubert wird, ist auf dem Rad zunehmend Schwerarbeit. Der Radler ackert sich mal in hohen Gängen, mal bei maximaler Trittfrequenz ab, verschafft sich zusätzlichen Widerstand durch das Anziehen der Bremsen (was wiederum zusätzliche Geräusche produziert). Schon vom Zuschauen bei dieser Plackerei gerät man ins Schwitzen, das Rhythmusgebilde wird körperlich erfahrbar. Die absichtlich harten Gangwechsel, das bewusste Verschalten bereitet den Radlern im Publikum Schmerzen und setzt harte Akzente im rhythmischen Geflecht.

JOSS TURNBULL, SEBASTIAN BAUER, prologue du tour, 17.04.2023, Rakete, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Auf einmal ergreift Bauer mitten im Radeln das Wort, berichtet vom Wohlgefühl des monotonen Tritts, der Trance, bei der die schlechten Gefühle und Gedanken vom Kopf durch den Körper in die Beine fahren und dort verbrannt werden. Auch wenn im Dunkel nicht zu sehen, darf man annehmen, dass viele der anwesenden Radler exakt diesen Zustand kennen und beifällig nicken. Die Katharsis des sportlichen Radelns.

Nach einer Dreiviertelstunde (oder war es viel länger oder kürzer? Keine Ahnung, irgendwie ist das Zeitgefühl bei diesem intensiven Erlebnis auf der Strecke geblieben) – nach einer unbestimmten Zeit also, endet das gemeinsame „Musizieren“ ebenso subtil wie es begonnen hat. Ein leises „Plitsch“ höre ich noch, wie ein Tropfen in die Schweißpfütze unter dem Rad fällt, und dann ist der „Prologue du Tour“ vorbei. In der abschließenden Fragerunde wird vieles erklärt, was aber die Bedeutung des eben Gehörten ist, das darf jede:r selbst interpretieren.

JOSS TURNBULL, SEBASTIAN BAUER, prologue du tour, 17.04.2023, Rakete, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

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