GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

Foto: Claus Kullak

My next song is not about bad times, it’s about end times, about the apacalypse. It’s also a tango.

Support Act Marisa Andersons lakonisch-wunderlichen Ansagen kündigen ihre instrumentalen E-Gitarren-„Songs“ an und regen zum Nachdenken an – meint sie das ernst, und wenn ja: kann ich es in ihrem psychedelischen Americana- und Bluesartigen Gitarrenspiel erkennen? Marisas letzter Song heisst „King Of The Garden“ und es geht um einen Vogel, der in ihrem Garten wohnt. Ihr Spiel und ihre assoziative Art sind eine großartige Einstimmung auf Godspeed, selten einen so passenden Support Act erlebt. Ihre Worte waren dann auch die letzten, die an diesem Abend gesprochen wurden, geschweige denn gesungen. Sie erhält viel Beifall vom mit 750 Leuten vollem Substage in Karlsruhe, es scheint, sie positiv zu überraschen. Ich meine, dass ich ganz kurz ein Lächeln gesehen habe. Damit ist es das einzige, welches diese Käuzin Karlsruhe heute schenkt.

Hope

GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

Foto: Claus Kullak

Das Wort flimmert auf der Hintergrundleinwand. Es ist 24 Mal pro Sekunde auf dem schwarzbelichteten Filmmaterial von Hand eingekratzt worden. Tausende einzelne „Hopes“, mit Hoffnung aufgeladene Photonen, lichtspielt einer der drei 16-mm-Projektoren und begleitet den Auftritt der acht Musikerinnen und Musiker von Godspeed You! Black Emperor. Die weiblich besetzte Geige und der Kontrabass beginnen. E-Gitarre, E-Gitarre, E-Gitarre, E-Bass, Schlagzeug und Schlagzeug folgen. Den sieben Saiteninstrumenten stehen jeweils eine Batterie an Effektgeräten zur Verfügung. Alle Gitarristen sitzen, damit sie beide Füße zum Schalten ihrer Geräte verwenden können. Geige, Kontrabass und E-Bass bedienen ihre Effekter im Stehen. Hochgerechnet müssten es etwa 70 Geräte sein, die da am Boden liegen. Geigerin Sophie Trudeau spielt barfuß. BarefootGaze also. Was für eine Besetzung, ein Post-Rock-Kammer-Orchestra!

GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

Foto: Claus Kullak

Zur Einordnung von Godspeed, gegründet 1994, kurz ein Ausschnitt aus dem ultralangen Wikipedia-Artikel: „Godspeed You! Black Emperor, kurz GY!BE (…), in der aktuellen Schreibweise deutsch etwa: Gute Reise Dir! Schwarzer Kaiser) ist eine kanadische Rockband aus Montreal, Québec, deren Alben als stilprägend für den modernen Post-Rock gelten. Post-Rock wiederum ist ein Sammelbegriff, bei dem „meistens die typische Attitüde und Pose von Rockmusik negiert“  werden und in der Regel auf die klassische Strophe-Refrain-Struktur und Gesang verzichtet werden. Gern werden ungewöhnliche Rhythmen und „ungerade“ Taktarten verwendet. Die Musikstücke sind oft lange bis sehr lange.“

Mit dem über 22 Minuten langen Titel „Storm/Hope Drone“ eröffnen Godspeed den Abend. Es entstammt vom 2000er Album „Lift Your Skinny Fists Like Antennas to Heaven“, welches als Post-Rock-Fixstern und damit Orientierungspunkt für viele Bands und Hörer gehört wird. Weitere Stücke kann ich nicht mit Namen benennen, aber das ist auch egal. Es geht darum, sich wegtragen zu lassen von den langsamen, sich aufbauen und wieder abbauenden Arrangements der acht Musiker. Dabei wird die Musik teilweise so schwer und wuchtig, dass es einen Atlas braucht, um diese Klangwelt noch schultern zu können. Sechs der vier- bis zwölftsaitigen Instrumente werden in endloser Rückkopplung gestrichen oder geschlagen, die beiden Schlagzeuge werden mit sich gegenseitig überlagernden Rhythmen getrommelt, um, wenn alle Saiteninstrumente alle die gleichen Akkordfolgen anstimmen, sich wiederum völlig zu synchronisieren – skurriles Bild: zwei exakt gleich gespielte Drum Kits nebeneinander.

GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

Foto: Claus Kullak

Spielt da jeder für sich? Und/oder doch alle zusammen? Individualismus im Kollektiv? Beim „Sich-weg-tragen-lassen“ kreisen die Gedanken, Assoziationen tun sich auf… brüchiger Asphalt, neonbeleuchtete Tunnel, angenehme Dunkelheit, Anwesenheit von Leere, Abwesenheit von Leere, Verbundenheit, Freiheit, Freundlichkeit, Leichtigkeit, Zugewandtheit…

Die drei Filmprojektoren zeigen auf der Leinwand in Schwarzweißaufnahmen Bäume im Wind, Regen vor einer Scheibe, ein Baumhaus, Wolken, Straßen, Wald. Der Filmvorführer legt immerzu neue Filme auf und hat mächtig zu tun. Neben ihm hängt ein Bündel loser Filmstreifen, aus dem er zufällig auswählt.

Das Konzert geht Post-Rock-gemäß zu Ende: Die Stromgitarristen führen ihre Instrumente in eine schleppende, endlose Rückkopplung. Bis das Perpetuum Sonans stabil schwingt, dauert es viele Minuten. Die Musiker verlassen einzeln die Bühne und bekommen so ihren individuellen Applaus, der allerdings eher zu spüren denn zu hören ist, dafür ist es einfach zu laut. Die Filmstreifen in den Projektoren werden von Hand gebremst, sie schmelzen, werfen Blasen, verziehen sich. Es qualmt mächtig an den Projektoren. Ein visuelles und auditives Crescendo!

Keine Angst vor der Hölle. Sie kann wunderschön sein, wenn man sie hören lernt. Oder ist das doch der Himmel, der da erklingt?

… schwadroniert der Gedankenkreisel.

GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

Foto: Claus Kullak

PS
Zum Namen der Band nochmal ein Wikipedia-Zitat, weil’s so schön ist: „Der Name kommt von God Speed You! Black Emperor. (original: ゴッド・スピード・ユー! BLACK EMPEROR., Goddo supīdo yū! Black Emperor.), einer 1976 entstandenen Schwarz-Weiß-Dokumentation von Regisseur Mitsuo Yanagimachi, in der die Taten einer japanischen Bikergang (bōsōzoku), der Black Emperors, beschrieben werden. Die Schreibweise des Bandnamens wurde mehrmals geändert, wobei sich allerdings nur die Position des Ausrufezeichens veränderte: von „Godspeed You Black Emperor!“ (1994–1999) über „Godspeed! You Black Emperor (1999–2002) zu „Godspeed You! Black Emperor“ (ab 2002).“

Die Set-List

(sagt setlist.fm):

Storm/Hope Drone
First Of The Last Glaciers
Bosses Hang
Cliffs Gaze
Dead Metheny
BBF3

Godspeed You! Black Emperor

Marisa Anderson

2 Gedanken zu „GODSPEED YOU! BLACK EMPEROR, MARISA ANDERSON, 17.04.2023, Substage, Karlsruhe

  • 21. April 2023 um 12:33 Uhr
    Permalink

    Herzlichen Dank für die tollen Fotos und den stimmig-stimmungsvollen Bericht, i do agree :)

  • 3. Dezember 2023 um 14:20 Uhr
    Permalink

    hab ihren Auftritt in Hamburg gesehen – ja, stimmt alles. Der Hammer!

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