CHARLOTTE BRANDI, 01.04.2023, Merlin, Stuttgart

Charlotte Brandi, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Auf dem Nachhauseweg im Auto, müde und leicht erkältet. Ich schalte das Radio an und bin plötzlich hellwach: Da erklingen Worte, dicht gesetzt, mein Ohr folgt einer Melodie, Bilder blühen auf, traumschön und alptraumschräg:

ATOMARE BLUMEN WIE LATERNEN […]
ALLES SCHLÄFT UNTER MIR IN GUTER RUH

Die Germanistin und Träumerin in mir ist schon verzaubert. Charlotte Brandi heißt die Frau (schnell aufschreiben, den Namen muss ich mir merken) – und WOW! Sie tritt am 1. April mit Songs ihres neuen Albums „An den Alptraum“ im Merlin auf. Ganz ohne Vorbereitung kann ich da nicht hin, und nach einem bisschen Nachlesen und -hören verstehe ich: Nicht nur ihre verdichteten Texte und Melodien haben eine besondere Kraft, auch sie selbst zeigt klare Haltung, indem sie ein rein weiblich produziertes Album umgesetzt hat, „gegen die Bequemlichkeit und für den überfälligen Paradigmenwechsel in der Musikwelt“ (Ilona Hartmann). Ob auch die konsequente Großschreibung aller Songtexte und -Titel ein deutliches Signal sein soll?

Inoyson, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Als Tour-Begleitung vorab tritt Inoyson auf, eine junge Ukrainerin aus Odessa: In einer überraschenden Mischung aus Indie-Jazz und Funk wiegt sie sich auf der Bühne. Angenehm vorne präsent ist ihre hohe rauchige Stimme (erinnert von der Farbe her ein bisschen an Kat Edmondson) und dazu ein Unten-Wumms mit Hammond-Orgel-Anklängen; entstehende Lounge-Atmosphäre wird gleich wieder angenehm gebrochen. Klänge mischen sich immer wieder neu, Überlagerungen und Echo-Effekte erstaunen. Und als Inoyson dann irgendwann vom Englischen ins Ukrainische wechselt, wird ihre Stimme hörbar stärker, bauchiger, geerdeter. Interessante Elektro-Arrangements, immer wieder mit Glockenspiel-Effekten, die ihre Songs – nein, eher sind es feine Skizzen – nach oben hin austropfen lassen.

Und dann kommt sie auf die Bühne, die Charlotte, unprätentiös und konzentriert zurückhaltend, zusammen mit Gitarristin Romy Jakovcic und Schlagzeugerin Aine Fujioka. Alle drei interessante Menschen, keine versexten Bühnengirls – wohltuend ist das. Unaufgeregt und ebenfalls deutlich feministisch programmatisch platziert Charlotte Brandi das erste Stück dieses Abends, „DER EKEL“:

DU FINDEST MICH EKLIG
BIST MIR NICHT GERNE NAH
DU MUSST MEINE LIEDER AUSMACHEN
WENN JEMAND SIE ANMACHT

Charlotte Brandi, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

Sehr zurückgezogen singt sie das, ohne Bühnen-Action, ohne Show – es geht ums Wort. Der fast choralartige, elektronisch erzeugte Gesang untermalt eher die natürliche Textmelodik mit einer passenden Tonhöhe. Dann aber lassen sich die drei Damen doch mit Schwung hinübergleiten ins poppigere und muntere „GELD“ – jetzt saust der Abend los. Sauber-kraftvoll legt das Schlagzeug weiter vor: „DIE LETZTE BRÜCKE“ über den schönen Lukas und den Abstand zwischen Männer und Frauen ist wunderbar aufeinander abgestimmt, ein Grinsen Charlottes zur Gitarristin, und dann ein echtes Highlight: „LUZERN“, ein starkes Stück mit Mörike, Matthias Claudius und Volkslied-Zitaten. Schweiz-Romantik oder doch ein „ALP-TRAUM“ (?) mit Tiefgang – „doch das Ende, das Ende / kennen wir nicht.“

Immer wieder fällt der Gegensatz zwischen einer kindlich-einfachen Melodie und verstörenden lyrischen Texten auf, z.B.: in „TODESANGST“:

TIEF IN MEINEN KATAKOMBEN
LIEGT MEINE SCHULD
RASSELT MIT IHREN KETTEN VOLLER UNGEDULD

Erst nach einiger Zeit wendet sich Charlotte Brandi sehr zugewandt und sympathisch ans Publikum und erklärt ihre heutige „Gefühligkeit“ hier in Stuttgart – die Nähe zu Tübingen, wo die gemeinsame Zeit mit Matze Pröllochs (Me and My Drummer) ihren Ursprung hatte, sei wohl einfach schuld daran. Aber hey –„Titten aufn Tisch!“ so sei das nach einer Trennung, tue weh, sei schrecklich – aber mache eben auch Platz für einen Neuanfang.

Und das Stuttgarter Publikum im Merlin trägt diesen neuen Abschnitt mit, mit ernsthaftem Interesse an den Texten („abr elles hemmer ned verschdanda, gell!“), großer Freude an der „so anderen“ Musik – rundum Zuspruch und Begeisterung im bunten Publikum.

Das (auf dem Album „An das Angstland“) mit Dirk von Lowtzow aufgenommene Duett „WIND“ singt Brandi nun alleine – aber auch das passt ganz gut zum gesellschaftlichen feministischen Diskurs. Sie kann nun wirklich beides singen: “was habe ich davon eine Frau/ein Mann zu sein”. Und noch mehr kann sie. Erstaunlich, wie man dieser Frau aus dem Ruhrpott auch den weichen österreichischen Selbst-Ironie-Schmäh sofort abnimmt: In „WIEN“ singt sie sich endgültig frei, tanzt auf der Bühne, ihre eigene Freude wird sicht- und spürbar – und steckt an. Das ganze Merlin feiert mit ihr den „FRIEDEN“ als furioses Finale und holt noch mehrere Zugaben heraus, auch das ukrainische Lied „Oy U Luzi Chervona Kalyna“ gemeinsam mit Inoyson.

Charlotte Brandi, Merlin, Stuttgart

Foto: X-tof Hoyer

„Gegen die Bequemlichkeit und für den überfälligen Paradigmenwechsel“ – wenn am Schluss diese drei Frauen (Charlotte Brandi, Romy Jakovcic und Aine Fujioka) da gemeinsam stehen und fröhlich den Applaus entgegennehmen, weiß man – ja, das ist gut so. Wir könnten, müssten es nur viel öfter so deutlich sehen.

Charlotte Brandi

Inoyson

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