ROCK’N’ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

Samstagabend im November, Nieselregen, fünf Grad. Da passt ein Besuch im Tiefbunker unter dem Diakonissenplatz doch stimmungsmäßig ganz gut. (Fast) allein in eisigen Tiefen, sozusagen.

Der Rock’n’Roll Diktator (bürgerlich: Jörg Kaier) steht heute auf dem „Kultur im Bunker“– Programm. Das neue Album „Bis zur Besinnung“ ist erstaunlich melancholisch geworden, kennt man den legendären Entertainer aus Bietigheim (dann Berlin, jetzt Stuttgart) doch sonst eher als Spezialisten für unernste Themen bzw. leicht abgedrehten Quatsch.

Den Stage-Namen Rock’n’Roll Diktator finde ich nach wie vor genial. Konsequent größenwahnsinnige, unwiderlegbare Selbstbezeichnungen gefallen mir generell (Fitness Forever, Emmy The Great, Superpunk, The Supremes). Schaue ich mir gerne mal wieder live an. Und in so einem Bunker war ich auch noch nie.

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

Erster Eindruck: Eisig ist es nicht, sondern angenehm temperiert. Fühlt sich auch nicht beengend an, sondern wie eine normale Konzertlocation mit Jugendzentrumflair. Stellenweise dominiert noch shabby chic, die wichtigen Sachen (Bühne, Luft, Licht, Sound) sind aber tipptopp.

Man fühlt sich ein bisschen wie damals in den Neunzigern, als man als Teenagerin erstmals die verheißungsvollen Orte betrat, an denen die Bands spielten. Offensichtlichster Unterschied heute: Es wird nirgends geraucht. Und anstatt Teenage Angst dominiert eine gewisse Ausgeglichenheit die eigene Gefühlswelt. Bildet man sich zumindest ein.

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

Nachteil allerdings, im Bunker ist null Handyempfang. Wäre seinerzeit irrelevant gewesen, heute doch kurz ungewohnt. Dann shazamt man die Musik, die im Hintergrund läuft halt erstmal offline und scrollt sich zur Abwechslung durch die eigene Fotogalerie statt durch die sozialen Medien.

Die Stühle im Hauptraum sehen nach 80er-Jahre Klassenzimmer aus, sind aber erstaunlich bequem, wie ich als kritische Sitzerin wohlwollend feststelle. Vielleicht doch Designobjekte mutmaßt der Begleiter. Erschlossen ist wohl erst ein Drittel des Bunker-Areals. Ein kleines Stück wagen wir uns auf Erkundungstour. Ob sich diese Tür wohl wieder öffnen lässt, wenn sie erst einmal hinter uns zugefallen ist? Lieber schnell zurück zum Platz.

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

Ziemlich pünktlich um halb neun geht’s los. Das erste Stück ist halb Soundcheck, halb Konzertauftakt („Bright Side of the Road“ von Van Morrison, für Sie gegoogelt). „Es hat quasi jetzt schon angefangen“, begrüßt der Künstler das Publikum. Der Abend ist in zwei Teile aufgeteilt, „Besinnung“ und „Blödsinn“. Jeder Teil beginnt jeweils mit einem Solopart, dann kommt die Band dazu.

„Ich komm jetzt dran“ ist mein erster Favorit, „Pony“ mag ich auch. Das popkulturelle Konzept Pferd/Pony spricht mich sowieso erstaunlich oft an (Mein kleines Pony, Die Jungen von der Feuerinsel, Bojack Horseman), warum eigentlich? Live gefallen mir die Stücke fast noch besser als auf dem Album. Jörg singt und spielt richtig gut und abwechslungsreich Gitarre, so ein Singer/Songwriter-Auftritt kann sonst ja auch schnell eintönig werden.

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

Erinnert mich immer wieder an (einen schwäbischen) Bernd Begemann, auch was die ungebremste Freude am Performen angeht. Ich finde die Mischung aus Solo und Band gut gelungen, wäre aber im Zweifelsfall für mehr Band. Mein Lieblingsstück ist „Pläne & Schwäne“, die Zeile „ich wollte doch auf den Fluss und wenn irgendwie möglich ans Meer“ rührt mich sehr.

In der Mitte gibt es fünfzehn Minuten Pause und Outfit Change bei Jörg. Statt komplett schwarz wie vorher trägt er jetzt eine weiß-helle Hemd-Hosen-Kombination, die entfernt an Elvis erinnert.

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

Erwartungsgemäß spricht mich der „Blödsinn“-Teil etwas weniger an. Musikalisch und stimmlich alles top, das Timing ist super und es gibt viele Lacher und Applaus und auch hitverdächtiges Material. Allerdings merke ich dann doch, das (Musik-)kabarett etwas ist, mit dem ich zu wenig Berührungspunkte habe, als dass ich es kompetent beurteilen könnte.

Auch hier mag ich die Parts, bei denen die Band dabei ist. Interessant auch, dass mir nicht immer klar ist, ob sich Jörg über sich selbst lustig macht oder über das Verhalten anderer. Eine ganze Reihe der Sinnsuche-Praktiken, die musikalisch auf die Schippe genommen werden, hat er offensichtlich auch schon selbst ausprobiert. Sympathisch, dass hier nicht nur viel (Selbst-)Ironie im Spiel ist, sondern auch die eigene Orientierungslosigkeit und Verletzlichkeit offengelegt wird.

Schöner Abend, der anschlussfähig ist an die eigene Vergangenheit. Bin gespannt, wie’s weitergeht.

ROCK'N'ROLL DIKTATOR, 19.11.2022, Kulturbunker Diakonissenplatz, Stuttgart

Foto: Madame Psychosis

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