ERREGUNG ÖFFENTLICHER ERREGUNG, ALEXANDER WINKELMANN, 22.09.2022, Merlin, Stuttgart
Ich befürchte, wir müssen mal wieder über die NDW reden, die „Neue Deutsche Welle“. Dieses Phänomen, das in den ausgehenden 1970ern mit avantgardistischen Bands wie Mittagspause oder Der Plan begann, dann mit DAF, Ideal oder Fehlfarben genau den Sweet Spot zwischen musikalischem Anspruch und kommerziellem Erfolg traf und mit Gestalten wie Markus & Nena, Hubert Kah oder Fräulein Menke eine rapide Banalisierung und gnadenlosen künstlerischen Ausverkauf erfuhr. Denn wer an diesem Abend im Merlin die „Pop Freaks“ Alexander Winkelmann und Erregung Öffentlicher Erregung erlebt und die NDW vor vier Jahrzehnten in allen Facetten erfahren hat, kommt an den allzu offensichtlichen Referenzen einfach nicht vorbei.
Mit Alexander Winkelmann eröffnet ein uns gänzlich unbekannter Künstler den ganz ordentlich besuchten Abend im Merlin. Auch Google gibt nicht allzu viel her. Ganz so jung wie auf dem Cover seines Albums „Danke der Nachfrage“ sieht der Künstler dann aber doch nicht aus, seine Stimme ist jedoch ebenso jugendlich ungestüm wie sein Bühnenauftritt. Mit höchstem Bewegungsdrang agiert er auf und vor der Rampe, erzeugt dabei einen veritablen Kabelsalat und gibt ausschließlich Songs mit Einworttiteln wie „Babies“, „Stadt“ oder „Weihnachtsfeier“ zum Besten. Das meiste ist stilistisch deutlich am späteren Ende der NDW einzusortieren.
Und wenn Winkelmann nicht so sympathisch durchgeknallt wäre und eher an so würdige Quatschköpfe wie Andreas Dorau erinnern würde, könnte es schlimm werden. So aber lassen sich die allermeisten vom Winkelmann’schen Charme einnehmen und feiern das erfrischend schräge Schauspiel. Mit „Juicer“, dem ganz zeitgemäßen Song über die Elektroroller-Auflader gibt es einen Ausflug in den Punk. „Garagen-Uwe“ am Schlagzeug, der auch gleichzeitig die Elektronik steuert, schaltet in den höchsten Gang und der Falsett-Refrain „JUUUUICER!“ lässt Erinnerungen an Plastique Bertrand aufkommen.
Die Erregung öffentlicher Erregung ist uns nicht unbekannt. Bereits 2018 war das Quintett aus Hamburg und Berlin bei den Pop Freaks und hat uns mit seinem Debut „Sonnenuntergang über den Ruinen von Klatsch“ begeistert. Das zweite Album „EÖE“ ist 2020 erschienen und hätte bereits damals im Rahmen des Pop-Freaks-Festivals präsentiert werden sollen, so kommt es nun halt zu einer sehr verspäteten Release-Party. Und die schließt nahtlos an 2018 an. Gitarrenlastiges zwischen Indie-Rock und Postpunk, zumeist im Uptempo-Bereich, mit der gewohnt dominanten Frontfrau Anja Kasten. Bei den gerne genannten Vergleichen mit Nina Hagen und Annette Humpe schlage ich mich auf die Humpe-Seite (womit dann auch die Verortung auf der NDW-Skala erledigt ist).
Beeindruckend ist jedenfalls die intensive Bühnenpräsenz, sowie die hohe Präzision und der Druck, mit dem die gesamte Band agiert, wobei ich die sehr akzentuiert eingesetzte Gitarre am meisten mag. Gefördert durch den für Merlin-Verhältnisse sehr lauten Sound, springt der Funke schon früh auf den größten Teil des Publikums über. Es wird getanzt und gefeiert. (Darunter übrigens ein paar junge Frauen, die in Stil und Klamotte original der Bravo 1981 entstiegen sein könnten) Die relative Gleichartigkeit der Songs ist für eine durchgängige Tanzparty bestens geeignet, meine nörgelnde Konzertbegleitung langweilt sich dabei aber und findet alles „bieder, konventionell und bestenfalls dreiviertel gut“. Dem mag ich mich – auch bei dem Blick in die Runde – überhaupt nicht anschließen. Zumal der Abend natürlich auch noch „Wir kreuzen Kompetenzen“ bringt, den EÖE-Hit mit Lyrics, die alles, was an „lustigen“ deutschen Songtexten in den letzten Jahren veröffentlicht wurde, locker in den Schatten stellt. Zum „Konzert des Jahres“, wie es der andere Konzertbegleiter feiert, reicht es bei mir dann aber doch nicht ganz.