TOCOTRONIC, 30.6.2022, LKA, Stuttgart
Wahrscheinlich verschiebt dieser komische Zustand der letzten zweieinhalb Jahre die Sicht der Dinge. Konzerte? Wie gut sind bitte Konzerte!
Das wissen all jene, die sie so schmerzlich vermisst haben, und sie nun wieder besuchen. Und das Gefühl trägt wahrscheinlich auch die Künstlerinnen und Künstler von einer Halle zur nächsten, von Applaus zu Applaus – immer aber auch von der Angst getrieben, wann dieses Drecksvirus bei ihnen in der Crew oder in der Band einschlägt und die Pause-Taste drückt.
Deshalb: Auf zu Konzerten! Auch wenn Tocotronic hier im LKA zum drölftausendsten Mal spielen (Dirk von Lowtzow meint, es müssen so acht, neun Mal gewesen sein), ist es ein ganz bezaubernder Abend mit einer spielfreudigen Band, Stofftierdeko und einem gut gelaunten Dirk von Lowtzow.
Die Vorband ist der sehr charmante Alleinunterhalter Rickolus, der schnell konstatiert: „it’s fucking warm like Florida“. Recht hat er. Leider wird sein Set von einigen Babblern gestört, daran hat sich nichts geändert.
Schön aber zu sehen, dass nicht nur die Ü40 Riege, also die Fans, die Tocotronic noch im Scala in Ludwigsburg gesehen haben, hier sind, sondern auch junge Menschen, die vielleicht gar erst bei bei „Nie wieder Krieg“ eingestiegen sind, diesem Album, das sowas von zur richtigen Zeit kam. Umbaumusik ist von „Twin Peaks“, zu Klängen von Romeo und Julias Opus 64, dem „Dance of the Knights“, spazieren die Herren die Showtreppe im LKA herab. Toco-Dirk erklärt sich solidarisch mit der Ukraine, um dann „Nie wieder Krieg“ anzustimmen. Vielleicht gibt es Menschen, die das mit dem unschönen Wort „Gänsehaut-Moment“ umschreiben würden. Aber vielleicht trifft es genau das. „Als wir im Mai 2018 dieses Lied geschrieben haben, wussten wir nicht, was vier Jahre später sein wird“, sagte von Lowtzow zuvor. Um dann die Baseball-Kappe abzuziehen und in den kommenden knapp zwei Stunden die Hits rauszuballern und sich immer wieder sehr doll über die rund 1000 Gäste und den großen Applaus zu freuen. Es gibt „Jugend ohne Gott gegen Faschismus“, den Tocoblues über Vereinzelung namens „Hoffnung“, den All-Time-Kracher „Digital ist besser“, die heimliche Stuttgart-Hymne „Aber hier leben nein danke“, den Alles-sind-gegen-mich-Song „Die Welt kann mich nicht mehr verstehen“, Lowtzows vertontes Jugendmemoir „Electric Guitar“ und natürlich „Let there be rock“. Heiß war es allen. Und dennoch: Kommt bitte wieder! Gerne nochmal acht, neun Mal.