JAN LISIECKI spielt Chopin, 03.05.2022, Liederhalle, Stuttgart
Nein, eine Rampensau ist er nicht, der junge Kanadier Jan Lisiecki. Etwas schlaksig legt er mit großen Schritten den Weg auf der weiten Bühne zum (warm und lebendig beleuchteten) Steinway-Konzertflügel zurück, verbeugt sich einmal freundlich-zurückhaltend, setzt sich – und bleibt konzentriert erst einmal still sitzen. Ganz schön lange. Und taucht dann ein in die Nacht-Gedichte, die „Poems Of The Night“, wie sein Programm überschrieben ist.
Alle zwölf Etüden der Werk-Nummer 10 des polnischen Komponisten Frédéric Chopin spielt er, durchwebt von verschiedenen Nocturnes. Etüden – das klingt eigentlich nach trockenen Fingerübungen und anspruchsvoller Technik; Nocturnes nach zarten Nachtstücken, die eher eine Nachdenklichkeit, ein Aufheben der Grenzen vermitteln.
Tatsächlich geht es kraftvoll mit der ersten Etüde in klarem C-Dur los – auch wenn man kein Pianist ist, spürt man: Da muss die Technik stimmen, um das spielen zu können. Vor allem die linke Hand arbeitet deutlich die musikalischen Linien heraus; rechts brausen die Arpeggien, die gebrochenen Akkorde, durch große Intervalle darüber auf und ab.
Nocturnes wechseln sich nun mit Etüden ab und nehmen den Hörer mit in ein Auf und Ab, in ein Ein- und ein Ausatmen. Unmerklich webt sich da an diesem Abend ein Chopin-Kosmos zusammen, in dem sich Nächtlich-Geheimnisvolles und vordergründig Technisches zu einem Gesamtbild fügen – ein echtes Chopin-Bad, aus dem man anders auftaucht, als man hineingestiegen ist.
Jan Lisiecki spielt oft aufrecht sitzend, fast etwas distanziert. Auch seine Interpretation der Werke bleibt ähnlich aufrecht: wenig Attitüde, wenig Effekthascherei, wenig „als-ob“, sondern immer ganz nah an der klarsten Version der Komposition. Am meisten fällt das bei den Stücken auf, die jeder gut im Ohr hat: Die Nocturne Nr. 2 Opus 9 beispielsweise kennt man (schlimm, das so schreiben zu müssen!) aus Funk und Fernsehen, aus der Werbung, aus üblen Samplern, gerne mal mit viel Pedal und Richard-Clayderman-Weichzeichner gespielt. Wohltuend dagegen, wie Lisiecki nah an der Partitur bleibt, eine fast naive, zarte Ur-Melodie herausschält und es so möglich macht, diese Nocturne neu zu hören. Ganz und gar neu. Keine überzogen-romantisierenden Ritardandi am Ende, nur den Spannungsbogen gehalten bis zum Schluss, bis zum doppelten Abgeben des Tons: einmal aus den Händen, dann aus dem Pedal.
Auch das Liederhallen-Publikum (hohes Durchschnittsalter!) scheint Chopin heute Abend sehr aufmerksam zu hören. Sicher gibt es bei jedem eigene Verknüpfungen zu Chopin und seinen Stücken – Erinnerungen an romantische Momente oder auch leidvolle Klavierstunden. Heute Abend kann jeder „seinen“ Chopin neu hören: schlicht und klug, klar und ernsthaft.
Nach der abschließenden „Revolutions“-Etüde (auch ein echter Knaller!) großer, begeisterter Applaus, Blumen – und als Zugabe eine Nocturne von einem Herrn Paderewski (op. 16 Nr. 4).
Zu dem könnte man auch mal eine persönliche Verknüpfung aufbauen und genauer unter die Hör-Lupe nehmen. Könnte sich lohnen.