SWR SYMPHONIEORCHESTER unter TEODOR CURRENTZIS, 07.04.2022, Liederhalle, Stuttgart

SWR SYMPHONIEORCHESTER unter TEODOR CURRENTZIS, 07.04.2022, Liederhalle, Stuttgart

Foto: SWR/Patricia Neligan

„Nur ein Friedenskonzert?“ Teodor Currentzis‘ musikalische Positionierung zum Ukraine-Krieg in der Liederhalle am 7. und 8. April 2022

Manche Zeitungen vermissen eine klare Stellungnahme von Teodor Currentzis und kritisieren, es gäbe „nur ein Friedenskonzert“. Tja – aber was für eins. Das eigentlich vorgesehene Konzertprogramm haben das SWR Symphonieorchester und sein Dirigent geändert in eine Friedens-Trias mit Werken eines ukrainischen, eines deutschen und eines russischen Komponisten. Sonst tritt Currentzis oft mit derben Stiefeln auf, schwarzem Hemd, enger Jeans und deutlich sichtbarem Undercut. Heute erscheint er – kaum erkennt man ihn – im Anzug und schwarzer (!) Krawatte, die Haare fast wie bei einem Konfirmanden brav gekämmt. Ernst, fast bedrückt zeigt er sich. Keinerlei wilde Star-Pose. Da ist einer gekommen, um musikalische Friedensarbeit zu leisten, hoch konzentriert, mit Hingabe, Enthusiasmus und Glauben. Es ist ihm sehr ernst.

Kaum vernehmbar sind die ersten Klänge des Ukrainers Oleksandr Shchetynsky. Aus einer angespannten Stille entwickelt sich langsam eine „Glossolalie for Orchestra“ aus dem Jahr 1989 – eine „Zungenrede“ für Orchester, die tatsächlich an sehr vielen Stellen unverständlich bleibt. Crescendo-Bögen gibt es, ein lauter werdendes Gewirr, immer wieder meint man, einzelne Motive, individuelle Instrumente, eine Klangsprache aus den anderen heraushören zu können. Doch mit dem Kopf allein fasst man dieses Stück nicht – man muss sich dem Treiben schon ganz hingeben, um dieses musikalische Sprachwunder bis zu seiner Ekstase erfahren zu können. Und irgendwann, nach einem schrillen Höhepunkt, stirbt die Musik weg. Currentzis lässt beim Dirigieren ein paarmal die Hände einfach fallen, so als ob auch er die Musik aus der Hand geben müsste. Selbst die Pauken verlieren ihre Spannung und rutschen in den Tonhöhen ab – alles lässt los.

SWR SYMPHONIEORCHESTER unter TEODOR CURRENTZIS, 07.04.2022, Liederhalle, Stuttgart

Foto: SWR/Patricia Neligan

Eindrücklich genug, doch es folgt ein weiteres verblüffendes Werk. Currentzis steht schon am Dirigentenpult: Eigentlich müsste doch jetzt – laut Programm Jörg Widmanns Bratschenkonzert– ein Solist herein gerauscht kommen. Aber es tut sich nichts. Stattdessen ertönt von irgendwo hinter den ersten Geigen ein lustiges Klopfen. Wie ein kleines Teufelchen aus der Kiste springt der französische Bratschist Antoine Tamestit hervor und tritt in ein Zwiegespräch, nach und nach mit dem ganzen Orchester. Er steckt einzelne Instrumente an mit seinen Motiven an, reagiert auf deren „Antworten“ und neckt und scherzt. Mal wird es wilder, dann tönt es wie in 1001 Nacht, ganz ohne Romantik-Kitsch. Die Bratsche hier ist ein Schalk, der sich abarbeitet am musikalischen Zwiegespräch, auch mal in Verzweiflung aufschreit – bis ihm die Luft ausgeht. Dem begeisterten Publikum zeigen sich Komponist, Dirigent und Solist Arm in Arm – Musik als verbindende Sprache.

SWR SYMPHONIEORCHESTER unter TEODOR CURRENTZIS, 07.04.2022, Liederhalle, Stuttgart

Foto: SWR/Patricia Neligan

Mit diesen beiden anspruchsvollen Stücken sind eigentlich alle schon bedient, Musiker wie Zuhörer. Aber dem Friedenskonzert fehlt noch das russische Element: Shostakovitch. Ausgerechnet der Komponist, der zeitlebens auf dem Grat balancierte zwischen Anpassung an das russische System und eigener künstlerischer Weiterentwicklung, der Komponist, der immer wieder nach einem Verriss seiner Musik in Lebensgefahr schwebte – oder dann wieder mit großer Geste als verlorener Sohn gefeiert wurde, der Komponist, der lange Zeit mit gepacktem Koffer unter dem Bett schlief, weil er fürchtete, nachts von der Geheimpolizei abgeholt zu werden, der, bei dem immer eine Zweischneidigkeit, ein schwankender Untergrund spürbar ist.

Als erschöpfter, aber erfahrener Steuermann kommt Currentzis also nach der Pause auf die Bühne. Von seinem leicht erhöhten Podest aus lotst er Orchester und Publikum über die wilde russische See und legt sorgfältig die Strukturen der 5. Symphonie frei. Er holt Feinheiten und Schmerz in Shostakovitchs Instrumentierung heraus, ebenso wie militärische Masse und ihre Macht. Currentzis lässt die strammen Bläser zu ihren Soli aufstehen; auch das exakt musizierende Schlagwerk klingt wie eine Maschine, deren Zahnräder unmenschlich ineinander greifen. Aber allzu blendend ist dieser Kremlglitzer. Und Currentzis sonnt sich nicht in diesem Glanz, verzichtet auf jegliches Schwelgen, im Gegenteil: Indem er Shostakovitchs musikalische versteckte Ironien noch blanker poliert, wird der Blick frei auf die darunter liegende Angst, auf den schwankenden Boden, auf Shostakovichs Versuch, zu überleben.

Und das ist doch – bei aller Kritik an Currentzis‘ Schweigen zur Ukraine – eine nicht zu überhörende Aussage. Vielleicht ist sie nicht so plakativ, wie manche im Kulturbetrieb sie gerne hätten. Aber man muss eben gut hinhören.

Großer, ergriffener Applaus. Erschöpfung und Dankbarkeit. Kaum einer rechnet nach einem solchen Abend noch mit einer Zugabe. Unerwartet aber erheben sich die hinteren Reihen des Orchesters und stimmen Bachs Choral „Jesus bleibet meine Freude“ an.

Wer es vor lauter Rührung und Ergriffenheit im Publikum schafft, singt leise mit.

Die Musiker umarmen sich auf der Bühne.

Nicht nur ein Friedenskonzert.

3 Gedanken zu „SWR SYMPHONIEORCHESTER unter TEODOR CURRENTZIS, 07.04.2022, Liederhalle, Stuttgart

  • 11. April 2022 um 17:18 Uhr
    Permalink

    Ein wahrhaft bewegendes Konzert.

    Die Schostakowitsch-Symphonie hat ihn augenscheinlich sehr bewegt; Hilfsbegriff „Musik ist die Sprache jenseits der Sprache“.

  • 13. April 2022 um 18:00 Uhr
    Permalink

    Ganz genau: Dieses Konzert ist die lange erwartete Stellungnahme des SWR-Chefdirigenten zum Ukrainekrieg und beschreibt präzise die Lage in der er sich als Musizierender mit Wahlheimat Russland derzeit befindet. Und jetzt soll’s auch mal gut sein, liebe StZ.
    Man beachte im Übrigen die Farbe der Schnürsenkel in den sonst schon mal von ihm getragenen Springerstiefeln…

  • 14. April 2022 um 17:41 Uhr
    Permalink

    „Man beachte im Übrigen die Farbe der Schnürsenkel in den sonst schon mal von ihm getragenen Springerstiefeln…“

    Und die wäre?

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