HUMAN ABFALL, 20.11.2021, Manufaktur, Schorndorf
Wenn der Fotograf unbedingt mal wieder fotografieren will, dann schreibe ich halt auch noch ein viertes Mal über Human Abfall. Denn ungeschriebenes Gig-Blog-Gesetz: „Kein Text ohne Bilder, keine Bilder ohne Text“. Vielleicht gibt es in diesem zweiten Pandemie-Winter auch nicht mehr allzu viele Gelegenheiten. Und genau diese Endzeitstimmung dräut auch über dem Konzert in der Manufaktur, zu dem sich gut 60 Zuschauer eingefunden haben. Erleben wir heute (mal wieder) das letzte Konzert vor dem Lockdown?
Wut und Verzweiflung waren schon immer die vorherrschenden Gemütszustände im Werk von Human Abfall. So deutlich wie heute war dies aber noch nie zu spüren. Und während ich mich anfangs schwertat, die Texte zu verstehen, geschweige denn zu interpretieren, tun sich heute neue Erkenntnisse auf. Zum einen, weil der wie immer brillante Sound in der Manufaktur die heraus geschrienen Wortkaskaden erstmals komplett verständlich macht. Zum anderen aber sind viele der (schon einige Jahre alten) Themen so verblüffend mit der Pandemie verknüpft, dass man dem Autor schon geradezu seherische Fähigkeiten attestieren muss.
Sei es „Denken lernen?!“, das die postfaktische Schwurbelei in bedrückender Klarheit beschreibt; und natürlich auch „Abgesagt“, das quasi der Soundtrack der letzten eineinhalb Jahren war und gerade in diesen Tagen wieder hochaktuell ist. Zeilen wie
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beschreiben nicht mehr nur allgemein den Callcenter-Wahnsinn, sondern sind präsent wie noch nie, wenn man sich mit Grausen an den Kampf mit Impf-Hotlines oder dem Gesundheitsamt erinnert. Und selbst der Klassiker „14 Tage Urlaub“ lässt schaurige Erinnerungen an den verregneten Sommerurlaub in der Region aufkommen.
Sächsische Schweiz? Schwäbische Alb? Titisee? Och, nee!
Deutschland, nein danke! Kein Urlaub in Absurdistan!
Kaum vorstellbar, dass damals bei der Entstehung dieses Textes die Möglichkeit von Reisebeschränkungen bereits in Betracht gezogen wurde. Aber gerade dadurch bekommt der visionäre Text eine frappierende Aktualität.
Noch nie war die Band-Performance so durchschlagend wie heute Abend. Frontmann Flavio Bacon lebt das komplette Spektrum von versteinerter Verzweiflung bis ohnmächtigem Zorn auf der weiten Bühne aus, gestikuliert und grimassiert in selten gesehener Intensität. Kann es sein, dass dies, was früher eher eine Shakespeare’sche Schauspiel-Leistung war, heute einfach echt ist? Es ist jedenfalls intensiv und beklemmend wie noch nie. Und die Band? Die ist in Top-Form. Auf unnötige Instrumentenwechsel verzichten Ringo Stelzl (Gitarre) und JFR Moon (Bass) inzwischen auch, was dem unterbrechungsfreien Fluss des Auftritts sehr guttut. Und Paul Schwarz am Schlagzeug gehört nicht zu denen, die die Beats locker aus dem Handgelenk klöppeln. Mit furiosem Körpereinsatz schmeißt er sich in die Maschinerie. Das alles kommt mit mächtigem Druck, angemessener Lautstärke und größter Präzision über die Rampe.
Und bevor ich jetzt noch irgendetwas von „wichtiger Band“, „relevanten Texten“ und „Dringlichkeit“ fasele, überlasse ich euch lieber der Bilderflut unseres Fotografen, für den es – angesichts der perfekten Fotoverhältnisse – offensichtlich kein Halten gab.
Setlist
Im Rückspiegel
Montags
Parkplatzsituation
Denken Lernen?!
A-F-D
Sonne scheint
Psychohygiene Fünf Minus
RTLM
Neu leben
Verrückter Planet
Überkatze
14 Tage Urlaub
Noch mehr
Abgesagt
Großartige und repräsentative Fotodokumentation eines Gigs, nein wohl Kunstereignisses der Performance von Human Abfall. 60 gute Zuhörer – unglaublich – brutal! Deutschland im November x.