MAULGRUPPE, 02.11.2021, Merlin, Stuttgart
Ganz ehrlich: Von Maulgruppe und Jens Rachut hatte ich bis vor kurzem so gut wie nichts gewusst. Ich hatte zwar am Rande wahrgenommen, dass die Band bereits 2019 im Komma war. Klang interessant, da ich aber im Urlaub war, habe ich mich nicht weiter damit beschäftigt. Das Platten-Cover mit dem Orden der Liquidatoren von Tschernobyl fand ich aber super. Als Jens Rachut kürzlich zu einer Lesung im White/Noise war, konnte ich leider wieder nicht hin, aber seine Relevanz wurde natürlich wieder mit dem Attribut „Punk-Ikone“ unterstrichen. Meistens wird dann gleich hinterhergeschoben, dass sich der Hamburger, der schon unzählige, nur Insidern bekannte Bandprojekte hatte, konsequent der Vermarktung und dem Business verweigert. Womit dann auch meine Unwissenheit entschuldigt wäre.
Sei’s drum: In Stuttgart scheint es jedenfalls mindestens vier bis fünf Dutzend Auskenner zu geben, denn das für Punkrock nicht gerade bekannte Merlin ist für einen unfreundlichen Dienstagabend erstaunlich gut gefüllt. Meine Erwartung, gleich gut abgehangen Altherren-Punkrock zu Gehör zu bekommen, wird durch einen Blick ins Publkium zumindest nicht entkräftet. Jens Rachut übertrifft die Anwesenden und vor allem seine Band noch um einige Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte. Zum Einstieg legt der 67-Jährige erstmal die Kosten für einen Maulgruppe-Auftritt offen (falls sich Veranstalter im Publikum befinden sollten), kündigt den schlechtesten Titel zu Beginn an, verspricht aber, dass es danach besser würde.
Auf seinem Notenpult hat er eine beeindruckende Zettelwirtschaft mit „den vielen Worten, die einfach nicht in meinen Kopp hinein wollen“. Knorrig, aber nicht unsympathisch, das „Punk-Urgestein“. Mit „Prim die Zahl“, vom aktuellen Album „Hitsignale“ startet das Set. Von wegen „gut abgehangen“! Das ist mit elektronischen Effekten und einer treibenden Offbeat-Gitarre vorangetriebener Punkrock, der umgehend ins Bein geht. Rachuts Sprech-Gesangsvortrag ist akzentuiert und dringlich. So klang Peter Hein, als er noch kein affektierter Schnösel war. Aktuelle Referenzen wären für mich eher Patrick Wagner (Gewalt) oder – wenn es ganz repetitiv wird – Flavio von Human Abfall. Die Band ist hoch motiviert, die Rhythmus-Sektion mächtig. Der Sound nahe der Schmerzgrenze (oder sind wir nur durch Konzertentzug verweichlicht?), aber – wie immer im Merlin – vom Feinsten.
Die Zwischenansagen werden weniger, Einwürfe aus dem Publikum werden mit „Handtuch“ quittiert, was bedeutet, dass man sich nach dem Konzert am Merch ein Maulgruppe-Geschirrhandtuch abholen darf. Der filmende Konzertfotograf wird auch noch kurz in den Senkel gestellt. Der Ton ist zwar rau, aber herzlich. Mit zunehmendem Verlauf wird der Sound immer treibender, stellenweise schon fast techno-mäßig. Mit dem gefürchteten Genre „Deutschrock“ hat das jedenfalls überhaupt nichts zu tun.
Während wir letztes Wochenende noch der Frage nachgingen, ob Pop denn nun tot sei, können wir hier Eddie Argos zitieren und konstatieren „Punkrock ist nicht tot!“. Kurios, dass uns das ausgerechnet ein Herr im Renteneintrittsalter dies so eindrucksvoll beweist.
Der Bassist wird einfach nicht älter. Wie heißt der noch ma? Der hat doch auch bei Dackelblut gespielt!