GRUPPE OIL, 20.09.2020, Merlin, Stuttgart

GRUPPE OIL, 20.09.2020, Merlin, Stuttgart

Foto: Yvy Pop

Das erste Lesekonzert der Männer-WG Gruppe OIL seit acht Monaten. Man merkt den Herren in den rosafarbenen Pullovern an, wie sehr sie die Bühne vermisst haben. Die meisten Konzerte 2020 wurden coronabedingt abgesagt: Im Merlin durften sie erstmals wieder auf die Bretter, sitzend – wie alle im Raum. In der Mitte illustrieren Zeichnungen von Bassist und Chefkoch Timur Mosh Çirak die vorgetragenen Episoden von Reverend Christian Dabeler (Deichbullen-Kommissar, Klotz & Dabeler), Maurice Summen (Staatsakt, Die Türen), Gereon Klug (Autor und Tausendsassa) und ihm selbst. Nicht zu vergessen: das einzige weibliche Band-Mitglied Emma. Die schnuffige Hundedame des Reverends winselt während des Konzerts tapfer hinter der Bühne, nicht wissend, dass sie fast zur Auflösung der Gruppe beigetragen hat. Aber dazu später.

GRUPPE OIL, 20.09.2020, Merlin, Stuttgart

Foto: Yvy Pop

Über den Zeitraum von zwei Jahren trafen sich die vier Mittfünfziger in der Märkischen Schweiz, um in einer schwer beheizbaren Hütte eine Band zu gründen. Herausgekommen ist neben einem Album auch ein gleichnamiger Roman namens „Naturtrüb“. Dieser beschreibt, ähnlich einem Briefroman ohne direkten Adressaten, den Zustand der einzelnen Protagonisten und die gegenseitigen Beobachtungen während des Aufenthalts. Jeder notiert sich tagebuchgleich die Vorkommnisse mit Uhrzeitangabe. Neben reinen Bestandsaufnahmen, wie das Zubereiten der diversen Eierspeisen nach Mosh Großmutters Rezept (Eier, Tomatenmark, Knoblauch, Sucuk und Gewürze), drehen sich die Gedanken um den Sinn der Bandgründung, in einer Welt, die bereits zu viele (?) Bands hat, um Musikgeschmäcker (natürlich), um zwischenmenschliche Eigenheiten und das große Ganze – um danach wieder beim Essen zu landen. Je länger man den Erzählungen der vier Herren zuhört, desto klarer kristallisieren sich die Charaktere dieser Männer-WG-Genossen heraus. Der rauchende Reverend gibt zu, seit dem Blues die Musikentwicklung nicht mehr wirklich verfolgt zu haben – und die tief sitzende Melancholie mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus ist ihm anzumerken, wenn er konstatiert, dass es im Leben sowieso keine Fröhlichkeit mehr gibt. Nur Blut, Rost und dreckigen Sand. Neben ihm wirkt Maurice Summen, der Jüngste in der Herrenriege, förmlich enthusiastisch, wie er mit klarer Sprech- und empathischer Singstimme vom „Mann ohne Abschlussschwäche“ und Emma berichtet. Gereon Klug wiederum fühlt sich als einziges Mitglied ohne Banderfahrung minderwertig und kanalisiert seinen aufkeimenden Frust gen Emma: „Der Hund ist wichtiger als die Zwischenmenschlichkeit. Emma wird unser Untergang sein.“ Er intellektualisiert das Experiment Bandgründung zwischen Auflösung und Wiederaufraffung und ruft die „Ey Erde“ an: „Du Heimkind des Universums, Klär doch mal Deine Rechtesituation!“. Neben ihm versöhnt die „Geheimwaffe“ Mosh die vier plus Hund und serviert gefühlt stündlich einen Mokka der guten Laune und immer wieder: Essen – der Sex des Alters.

GRUPPE OIL, 20.09.2020, Merlin, Stuttgart

Foto: Yvy Pop

Ja, die vier kokettieren vielfach mit dem Alter und dem Scheitern. Und dennoch haben sie sich die Freiheit erlaubt, einfach machen zu dürfen, was sich ergibt in so einer Hütte im Nirgendwo. Entsprechend unterschiedlich sind die Songs, die zwischen den vorgelesenen Kapiteln im Merlin dargeboten werden. Einmal zynisch nah am Bandnamen („Frack it“), dann wieder fast naiv liebevoll („Frei wie der Wind“), und wortgewandt aktuell („Yoko Ohne“ über die Schließung des Hamburger Clubs Yoko Mono). Einzig „Du ich meld mich später“ bleiben sie schuldig – dieses Lied hat „zuviel Text“ – wie schade, ist es doch die langersehnte Antwort auf Trios „Sabine Sabine Sabine“.

Am Ende des Abends fühlt man sich wie ein Augenzeuge einer öffentlichen Gruppentherapie – und vermutlich war das Experiment der Gruppe OIL nichts anderes. Wie schön, dass dabei eine LP (Gatefold!) und ein äußerst unterhaltsamer Roman entstanden sind. So naturtrüb scheint es wohl doch nicht gewesen zu sein.

GRUPPE OIL, 20.09.2020, Merlin, Stuttgart

Foto: Yvy Pop

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