„40 Jahre Monarchie und Alltag“, Playtime Album Session, 16.07.2020, Dieselstraße, Esslingen

Foto: Britanja

„Scheißdreck! Alles Scheißdreck!“ Plattenempfehlungen von Freunden? 180-Gramm-Vinyl? Musikkonsum der Jugendlichen? „Scheißdreck!“ Österreichische Musik? Streaming? Neue Musik überhaupt? „Alles Scheißdreck!“ Peter Hein, der Fehlfarben-Sänger gibt als Ehrengast auf der Bühne des Kulturzentrums Dieselstraße den ironisch-übellaunigen alten Mann und übertreibt es mit seiner Bühnenrolle. Was anfangs vielleicht lustig gemeint war, verselbständigt sich und macht einen Dialog unmöglich. Und was als illuster besetzte Talk-Runde geplant war, verwandelt sich zunehmend zu einer ärgerlichen One-Man-Show.

Dabei fing der Abend doch so gut an. Die Serie „Playtime Album Sessions“ macht in Esslingen Station und der Musikfotograf und Gigblog-Kollege Reiner Pfisterer präsentiert, begleitet von der Kultursoziologin Steffi Rhein, sein Lieblingsalbum „Monarchie und Alltag„. Viele gute Gründe, nach vier Monaten Abstinenz einen ersten vorsichtigen Ausflug zu einem Musik-Event zu wagen. Zumal unter freiem Himmel und ohne aerosol-produzierende Musiker. Viele bekannte Gesichter und alte Freunde haben sich eingefunden. Musik-Fans unter sich. Mit Open-Air wird es dann leider nichts: Der für die Veranstaltungsreihe „Parklücke Open Air“ liebevoll zur Eventfläche umgestaltete Parkplatz muss wegen Regens leider ungenutzt bleiben. Aber der für gut dreihundert Zuschauer ausgelegte Saal ist mit fünfzig Liegestühlen und anderen Sitzgelegenheiten so luftig eingerichtet, dass die Wahrung der Abstandsregeln ein Leichtes ist. (Und er bietet die besseren akustischen Bedingungen)

Das Konzept der Playtime Album Sessions, ein Projekt von Marc Engenhart und Duc-Thi Bui, ist ebenso simpel wie überzeugend: Unter besten akustischen Bedingungen, ohne jegliche Show oder sonstige Ablenkung, wird ein komplettes Album (natürlich als Vinyl) in einem Veranstaltungssaal oder einem Kino gespielt. Die Gäste haben die Gelegenheit, in ungewohnter Intensität ein bekanntes Lieblingswerk oder auch unbekanntes „Überraschungs-Album“ zu hören. Und dies funktioniert in der Dieselstraße ganz hervorragend. Die Anlage, die wir schon auf vielen Konzerten zu schätzen gelernt haben, verleiht dem wütenden Ur-Album des Deutschpunks eine Wucht, die mir Gänsehaut bereitet und selbst den Nörgler Hein beeindruckt. Der sitzt übrigens eine Reihe hinter uns und singt lauthals mit. Gespielt wird die Remaster-Edition von 2017 („Scheißdreck!“), was vielleicht auch ein Grund für die unerwartete Brillianz ist. Knapp vierzig Minuten ballern die elf Titel, die für mich der Soundtrack meiner Adoleszenz waren, in heftiger Lautstärke aus den Boxen. Unmöglich einen davon hervorzuheben, die Platte ist und bleibt in ihrer Gesamtheit ein Meisterwerk.

Und als nach dem letzten Ton das Licht wieder langsam angeht, möchte ich mich sofort dem Rufer aus der dritten Reihe anschließen: „Nochmal!“ (Auf der Re-Edition geht übrigens das Tickern des Weckers bei „Paul ist tot“ nicht in die Endlosschleife der Auslaufrille. Ein echtes Manko.) Duc-Thi Bui verliest noch die Liner-Notes und dann betritt die Talk-Runde die Bühne, die mit einem Riesenplakat des Fotos vom Album-Cover geschmückt ist.

Ob es die teilweise unbedarften Fragen der Moderatoren sind, die Peter Hein verärgern, oder ob dies einfach die Wandlung zu seiner Bühnen-Persona ist, die man auch auf Fehlfarben-Konzerten erleben kann, ist letztlich egal. Die Redeanteile Hein-Pfisterer-Rhein folgen in etwa dem Schlüssel 90-7-3. Gerne hätten wir mehr von Reiner Pfisterer und seinen Gründen erfahren, genau dieses Album zu präsentieren. Eine kultursoziologische Einordnung durch Steffi Rhein (eventuell auch unter dem Aspekt der offensichtlichen gesellschaftlich-politischen Parallelen zwischen den Achtzigern und der Gegenwart) wäre sicher sehr spannend geworden. Aber Hein, der für dieses Event auf Einladung von Pfisterer eigens aus Wien angereist ist, lässt hierfür keinen Platz. Zu sehr genießt er es, den aufkommenden Dialog zu unterbinden. Als er dann noch zweimal dazu ansetzt, sich über Corona-Regularien zu echauffieren, die er für sinnlos hält und die es in Österreich so nicht gebe, wechseln die Moderatoren nach einem peinlichen Moment der Stille das Thema. Sollte hier in der Runde eventuell ein Corona-Schwurbler sitzen? Wir wollen es lieber nicht wissen.

Letzte Sympathien hat Hein dann bei mir verspielt, als er auf eine Publikumsfrage zu „Militürk“ bellt: „Was soll ich dazu sagen? Ist nicht von mir.“ und ergänzt „Achja, Delgado soll ja kürzlich gestorben sein, habe ich gehört.“ Das lässt jegliche Wertschätzung und Respekt vor dem Künstlerkollegen vermissen und verdirbt mir den Abend vollends. Und in der gemeinsamen Nachbetrachtung stellen wir uns die Frage, die uns seit Morrissey umtreibt: „Kann man in solchen Fällen das Werk vom Künstler trennen, um es weiterhin schätzen zu können?“ Ich befürchte, man muss.

 

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