THE SELECTER, 04.10.2019, Jazzhaus, Freiburg
2-Tone. Wenn ich das Genre benennen sollte, das den nachhaltigsten Einfluss auf meine musikalische Entwicklung hatte, dann ist es der englische Ska der späten 1970er/frühen 1980er Jahre. Mein erster Kontakt mit dieser Musik war „One Step Beyond“, zu dem wir praktisch jeden Samstag im „AT“ – unser bevorzugten Disco – zappelten. Ich hatte keine Ahnung, dass man dies Ska nannte und erst mit den Specials erkannte ich einen gemeinsamen Stil. Etwas später, dafür umso heftiger, entdeckte ich The Selecter. Wesentlich härter als die beiden anderen Bands, zudem mit einer Frontfrau. Das war tatsächlich etwas Besonderes und wurde zu einer meiner Lieblingsbands. Noch viel später erschloss sich mir übrigens, dass all diese Bands eigentlich nur den jamaikanischen Ska – den Vorgänger des Reggae der frühen 1960er – mit Rockmusik mischten und mit höherem Tempo und mehr Härte spielten. Damit tat sich nochmal ein fast unerschöpflicher Fundus weiterer musikalischer Entdeckungen auf. Neben vielen Original-Ska-Bands der 1960er und unzähligen der dritten und vierten Welle habe ich auch – bis auf The Selecter – alle wichtigen Bands der 2-Tone-Ära live gesehen. The Beat 2007 im Landespavillon, The Specials 2011 im E-Werk Köln (dort lernte ich übrigens unseren Fotografen Martin kennen) und Madness 2012 auf den Jazzopen.
Und jetzt bietet sich endlich die Gelegenheit, die letzte Lücke zu schließen, und zwar mit einem Ausflug ins Jazzhaus Freiburg. Locations mit dem Begriff „Jazz“ im Namen schrecken mich schon lange nicht mehr. Das Schreckensbild bräsig-vollbärtiger Studienräte und verstaubter Atmo ist schon längst der Erkenntnis gewichen, dass man dort meist tolle Akustik, perfekte Technik und gute Bierversorgung erwarten darf. Und da erreicht das Jazzhaus tatsächlich volle Punktzahl. Über einen Zugang, der eher herunter zur U-Bahn zu führen scheint, gelangen wir in einen beeindruckenden Saal mit imposantem Gewölbe. An beiden Stirnseiten gibt es eine Theke und an der Längsseite eine sehr breite, nicht allzu hohe Bühne. Ein großartiges Setup, ähnlich wie im 100 Club in London: Selbst die letzte Zuschauerreihe ist noch sehr nah am Geschehen, der Sound ist überall im Saal von bestechender Qualität.
Wir sind früh vor Ort und trauen unseren Augen nicht: Am Merch steht niemand Geringeres als Pauline Black, die legendäre „Queen of Ska“, und plaudert mit den noch wenigen Anwesenden! Die fast 66-Jährige ist nicht nur eine Mode-Ikone der Ska-Bewegung und Role Model für viele junge Musikerinnen, sie hat mit ihrer Autobiografie „Black by Design“ auch ein viel beachtetes Buch geschrieben und sogar als Theater-Schauspielerin reüssiert. Da lassen wir uns ausnahmsweise sogar mal zu einem Fan-Foto hinreißen.
Um Halbacht beginnt das Warmup mit einem DJ-Set: Rhoda Dakar, ebenfalls ein Original der 2-Tone-Ära, Frontfrau der ersten All-Girl-2-Tone-Band The Bodysnatchers und Mitglied von The Special AKA, legt Klassiker des Sixties‘ Ska auf und bringt das gemächlich eintröpfelnde Publikum langsam aber sicher auf Betriebstemperatur. Als sie kurz nach Halbneun die Bühne an The Selecter übergibt, hat sich der Saal zwar ganz gut gefüllt, er ist aber bei weitem nicht ausverkauft. Ja, das 2-Tone-Revival, das zum 40sten Jubiläum dieser Subkultur in England gerade um sich greift, scheint nicht nach Deutschland rüberzuschwappen. Schade, dabei ist diese Musik mit ihren zentralen Themen Antirassismus und Toleranz immer noch genauso relevant wie vor vier Jahrzehnten. Die Band, die sonst weit größeres Publikum gewöhnt ist, scheint dennoch wild entschlossen, aus dem Abend einen ganz besonderen zu machen. Nach dem Intro hauen sie gleich ihren Hit „Three Minute Hero“ raus und der Saal ist umgehend am Skanken. (Wie jede anständige Subkultur hat der Ska seinen ganz eigenen Tanzstil, der von den in großer Zahl anwesenden Skinheads natürlich besonders stilecht zelebriert wird).
Ein großer Teil des Programms besteht aus den Titeln des berühmten Erstlingsalbums. Arthur „Gaps“ Hendrickson – neben Black das einzige Selecter-Originalmitglied – liefert sich mit Pauline Black den für die Band typischen Wechselgesang, unterstützt von einer Band exzellenter Live-Musiker, die zwar nicht die anarchischen Chaosauftritte der frühen Band reproduzieren, dafür eine durchgängig druckvolle Show abliefern. Mit „Train To Skaville“ und „Carry Go Bring Home“ verneigen sich Selecter vor den Ska-Helden der Sechziger, bevor dann Rhoda Dhaka mit auf die Bühne kommt, um die Bodysnatchers-Hits „Let’s Do Rock Steady“ und „Ruder Than You“ zum Besten zu geben.
Zum Abschluss schießen sie mit einem Medley ihres Hits „Too Much Pressure“ und dem Toots-Klassiker „Pressure Drop“ nochmal ein Feuerwerk ab, bevor sie zum Finale mit der Ska-Hymne „Madness“ dem King of Ska Prince Buster ihre Reverenz erweisen. Hach, das war ein Abend gelebte Musik-Geschichte – und zwar sehr lebendige! Und ein ganz wichtiges Häkchen auf meiner Bucket List.
Setlist
The Avengers
3 Minute Hero
Out On The Streets Again
Everyday
Frontline
Breakdown
Celebrate The Bullet
Murder
Danger
(Who Likes) Facing Situations
Missing Words
Remember Me
The Whisper
See Dem A Come
Train To Skaville
James Bond
Carry Go Bring Home
On My Radio
Let’s Do Rock Steady
Ruder Than You
Too Much Pressure / Pressure Drop
Madness