CHRISTINA AGUILERA, ALOE BLACC, 13.07.2019, Jazzopen, Schlossplatz, Stuttgart
Der niveauverwöhnte Arte-Zuschauer und DLF-Hörer wird wohl einen größeren Bogen um dieses Konzert im Rahmen der Jazzopen gemacht haben, aber darauf liefert Christina Aguilera schon während den ersten Songs die passende Antwort:
Mirror, mirror on the wall – I don’t give a fuck at all!
Mirror, mirror on the wall – Who’s the fliest bitch of them all?
Achja… schon als ich die Ankündigung für dieses Konzert gelesen habe, begab sich mein Hirn auf eine Reise zurück ans Ende der 1990er Jahre. Wie schon Britney Spears zum Besten gab: „I’m not a girl, not yet a women“ war auch ich irgendwo verloren zwischen kindlichem im Dreck spielen und einem pubertären Zwei-Fronten-Krieg gegen alle Vorschriften meiner Eltern und der Lehrer. Wie soll man auch entscheiden, welchen Weg man im Leben beschreiten möchte, wenn auf der einen Seite dieser blonde Engel Christina Aguilera auftaucht und ganz unschuldig „Genie in a Bottle“ singt, einem mit verführerischem Blick das Paradies verspricht und auf der anderen Seite Marylin Manson seinen Fight Song veröffentlicht und damit, zumindest für mich, die Tür zur dunklen, schmutzigen Seite aufgetreten hat. Totale Überforderung für einen 13-jährigen Pseudorebellen und Rotzlöffel und auch meine Eltern waren nicht begeistert, als ich mir die Holy Wood Platte von meinem Konfirmationsgeld gekauft habe. So haben wir uns nach der Schule also damit beschäftigt, wie wir Christina Aguilera überzeugen könnten, uns zu deflorieren und haben dabei Marilyn Manson gehört.
Mit diesen Erinnerungen aus der ersten Reihe des Kopfkinos das Gelände der Jazzopen zu betreten und mit der Gewissheit, in ein paar Stunden die Traumfrau meiner Jugend aus wenigen Metern bestaunen zu können – da fängt mir beinahe die Nase an zu bluten.
Mit Christina erlebe ich heute mein erstes Mal auf diesem Festival (immerhin) und bin schwer beeindruckt vom lustig durcheinander gewürfelten Bild des Publikums. Von meinem Thron im Pressebereich erspähe ich drei Jungs in meinem Alter mit Rammstein-, Metallica- und Faith No More-Shirts. Brüder im Geiste. Aber auch das noble Ehepaar in der teuren Abendrobe will sich dieses Popspektakel nicht entgehen lassen.
Doch bevor es vor und auf der Bühne Dirrty wird, dürfen die Stuttgarter Miricalls das Publikum ein wenig bespaßen. Ich bin etwas gelangweilt, weil gefühlt aus jeder Popsong-Floskel etwas zusammen gesungen und dem dann eine total deepe Bedeutung zugemessen wird. Als Beispiel dient hier der Song „Home“ ganz gut. Newcomer sollte man natürlich unterstützen, aber da habe ich auf meinen Raubzügen in mir fremde Genres wirklich schon um einiges innovativere und kreativere Pop-Kombos gesehen, denen man wünscht, mehr Leute würden das auch für sich entdecken und würdigen.
Als eigentlicher Support darf Aloe Blacc schon das zweite Mal in dieser Woche ran, da er bereits den krankheitsbedingten Ausfall von Sting mit seiner ziemlich coolen Mischung aus Soul, Hip Hop und Jazz kompensiert hat. Angefangen wird gleich mit einem seiner bekanntesten Songs „I need a Dollar“ und da frage ich mich, als totaler Nichtkenner seiner Diskografie, was da noch als Highlight kommen soll. Doch schnell wird mir klar, dass es sich bei Aloe Blacc ähnlich verhält, wie bei vielen großen Popstars und Mainstream-Musikern und sich die wahren „Hits“ eher im Bereich der nicht veröffentlichen Singles befinden. Kleine Schätze, die hinter den gehypten Songs ungerechtfertigter Weise oft weniger Beachtung finden. „My Way“ möchte ich dabei besonders herausheben, da wurde meinem kalten Black Metal-Herz kurz ganz warm.
Es folgt etwas, was von der Idee her cool klingt, die Umsetzung jedoch leider am Einsatzwillen des Stuttgarter Publikums scheiterte. Wir alle kennen die Videos von brechenden Wall-Of-Deaths von diversen Metal Festivals. Aloe Blacc möchte ganz ähnlich das Publikum in der Mitte teilen, damit jeder den die Muse küsst, Platz findet, um in der Mitte zum Soultrain zu tanzen. Leider bleibt sein Bitten um diese Aktion unerhört. Der Stuttgarter schenkt nichts vom erkämpften Platz her.
Mir geht es immer nah, wenn Musiker verstorbenen Kollegen, Idolen und Freunden einen Song widmen oder gerne auch gleich zwei. Mit „SOS“ und „Wake Me Up“ gedenkt Aloe Blacc dem leider verstorbenen schwedischen DJ Avicii und feiert mit dem Publikum das Schaffen dieses Künstlers. Und man merkt, dass da viel Dankbarkeit mitschwingt und -singt und diesen Auftritt sehr schön abrundet.
Nun werden mir aber die Hände schwach und die Knie feucht. Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis die Königin meiner Jugend mir erscheint. Aber natürlich lässt man das Publikum und mich 15 weitere quälend lange Minuten warten, wie sich das für eine echte amerikanische Diva gehört. Alles andere wäre unangemessen.
Was soll ich groß drum herumschreiben… als Christina auf der Bühne, sich in einem Thron räkelnd, erscheint und die ersten Töne haucht, denke ich wieder an den kleinen Jungen, der unbedingt genau diese Frau zur Freundin haben wollte. Unterstützt von einer handvoll Tänzern und Background-Sängerinnen beginnt sie die Show mit einem kurzen Medley zu dem sich auch ihre ersten Hits „Genie in a Bottle“ und „Come on over“ gesellen. Ich hatte ja ein wenig vermutet, dass Christina ihre Setlist oder zumindest einzelne Songs ein wenig an das grobe Thema Jazz anpasst, aber da lag ich voll daneben und wir bekommen ein astreines American-Pop-Konzert zu sehen, mit allem Pi Pa Po. Und ja, sie weiß sich immer noch zu bewegen. Die Hüften kreisen verführerisch, das Outfit ist mal mehr, mal weniger ein Hauch von sehr wenig und, natürlich ist das auch zu erwähnen, ist die Stimme absolut on Point. Es gab ja Mitte der 2000er das ewige Duell zwischen Christina und Britney Spears. Ich selbst war immer im Team Christina, weil hinter dem ganzen Konzept des blonden Popsternchens, zumindest bei ihr, jede Menge an gesanglichem Können steckt. Was allerdings auffällt, die Background-Sängerinnen übernehmen wirklich sehr viel von den Strophen. Da könnte man nun munkeln, ob mit 39 Jahren die Luft fehlt für ein abendfüllendes Programm, aber ich schiebe das mal auf einige Songs an sich, die ja alle immer mit auffallend vielen Gesangsspuren versehen und dann live nicht so wie auf Platte vortragbar sind. Aber natürlich weiß Christina diese kleinen Auffälligkeiten mit viel Charme und Sexyness zu kaschieren und spätestens als sie „Dirrty“ anspielt, kann ich mich sowieso an die vorangegangenen Kritiken nicht mehr erinnern. Tatsächlich hat dieser Song mich und meine Freunde in unserer Jugend schwer beschäftigt, erregt und RedMan wurde zum großen Feindbild ausgerufen, weil er mit der halbnackten Christina dieses Video drehen durfte. Angekommen in eben jenem Dirrty-Mode, wird auch gleich noch „Moulin Rouge“ nachgeschoben, bei dem man tatsächlich streckenweise nicht mehr weiß, wer gerade singt, weil gefühlt jeder, der auf der Bühne steht, eine Strophe singen darf. Mittlerweile tanzt Christina übrigens nur noch in einem schwarzen Body über die Bühne – das muss auch mal erwähnt werden, da wir ja leider keine Bilder machen durften.
Dass Christina für viele Menschen aber viel mehr ist als eine Sexbombe aus den Erinnerungen an die Jugend, machen ihre beiden Songs „Beautiful“ und „Fighter“ sehr deutlich, so dass mittlerweile selbst der Himmel nicht weiß, ob er lachen oder weinen soll. Auch damit wird Christina Aguilera sicherlich immer in Erinnerung bleiben. Menschen, die nicht der gewünschten Norm oder Lebensweise entsprechen, Mut zu gesprochen zu haben und ihnen Musik geschenkt zu haben, die Kraft spendet, wenn Ignoranz und Intoleranz versucht, diese zu entziehen. Ein wirklich schöner Abschluss für den jungen und den alten Alex.
Ich bin sicherlich nicht der einzige, der schief angeschaut wurde, als man erzählt hat, dass man sich heute Abend Christina Aguilera anschauen geht. Zu bereuen gibt es natürlich nichts und so nah wie heute werde ich dieser schönen Erinnerung an die Jugend auch nicht mehr kommen. Und wenn mir doch einer blöd kommt, singe ich einfach leise vor mich hin..
You are beautiful no matter what they say… words can’t bring you down!