100 SONGS, 21.06.2019, Kammertheater, Stuttgart

100 SONGS, 21.06.2019, Kammertheater, Stuttgart

Foto: Staatstheater Stuttgart – Björn Klein

Es ist doch immer wieder aufregend, die Komfortzone „Konzertbericht“ zu verlassen. Allzu oft wagen wir das ja nicht; unser Archiv spricht da eine deutliche Sprache: Von unseren knapp 1.800 Beiträgen befinden sich gerade mal sieben in der Kategorie Theater. Und auch diese haben meist irgendwie mit Musik zu tun. So auch unsere aktuelle Begegnung mit dem Schauspiel: „100 Songs“ steht im Kammertheater auf dem Programm. Und wir besuchen unsere zweite Premiere in der aktuellen Spielzeit. Was bei „Die sieben Todsünden“ noch ein gesellschaftliches Groß-Ereignis war – Fernsehübertragung aus dem Foyer, hohe Promidichte bis hin zu Landesvater und Landtagspräsidentin – ist hier doch schon ein paar Nummern kleiner. Ein lauer Sommerabend, das quietschbunte Foyer im Kammertheater unterminiert ohnehin jegliche Förmlichkeit, der Intendant kommt im schlabbrigen Polo-Hemd, einzelne Premierenbesucher sogar in kurzen Hosen und Sandalen.

Dabei findet hier immerhin eine deutsche Erstaufführung statt. Robert Schimmelpfennig, der Verfasser des Stücks und einer der meistgespielten deutschen Bühnenautoren, inszeniert höchstselbst und zeichnet für die Bühne verantwortlich. Angenehm: Somit stellt sich gar nicht erst die Frage nach der Werktreue und was an dieser Inszenierung vielleicht ein unerwünschter Regieeinfall sein könnte. Mit „100 Songs“ hat er sich jedenfalls ein schwieriges und durchaus aktuelles Thema vorgenommen: ein Bombenattentat. Genau genommen die vier Minuten davor. Wer sind die Menschen, deren Lebenswege sich hier in der Katastrophe kreuzen? Was bewegt sie, was sind ihre Ängste und Emotionen in den letzten Minuten vor dem großen Knall? Und welche Songs haben sie gerade im Ohr?

100 SONGS, 21.06.2019, Kammertheater, Stuttgart

Foto: Staatstheater Stuttgart – Björn Klein

In scheinbar unendlicher Wiederholung kreist die Handlung um diese vier Minuten, beginnt immer wieder um 8:51 an einem warmen Sommermorgen am Bahnhof, bevor sie kurz vor der Explosion endet und in die nächste Schleife geht. Just dann, wenn Sally, die Kellnerin des Bahnhofscafés,  eine Tasse fallen lässt. Im Radio läuft gerade Sallys Lieblingssong „Bette Davis Eyes“ von Kim Carnes. Mit sechs Schauspielern und Schauspielerinnen ist das Stück besetzt. Jeder spielt mehrere Personen, manchmal wird dieselbe Person von mehreren Schauspielern gespielt. Was schon fast nach einer labormäßig-akademischen Versuchsanordnung klingt, kommt überraschend dynamisch und flott über die Bühne. Und das liegt in erster Linie am wunderbar rhythmisch gestalteten Text, den sich die Akteure mit hohem Tempo und viel Verve weiterreichen. Unterstrichen durch permanente Kostüm- und Positionswechsel und Gesangseinlagen huschen sie von einer Rolle in die nächste, wechseln im Halbsatz die Perspektive und die Rollen. Mit jeder Schleife wird eine weitere Schicht der Protagonisten freigelegt. Die Gefühlswelten bewegen sich von tragisch (Reinhard Mahlberg in der Rolle eines Pfarrers auf dem Weg zur Beerdigung eines sechsjährigen Kindes) über grotesk (Sebastian Röhrle als dauerarbeitsloser Fensterbankglotzer mit Odins-Visionen) bis albern (Robert Rožić und Anne-Marie Lux in der Rolle von verliebten Literaturstudenten) und lakonisch (Alexandra von Schwerin als gläubige Stripperin auf dem Heimweg von der Arbeit). Alle sechs Akteure überzeugen in ihren Rollen und haben sichtlich Spaß am temporeichen Spiel. Auch, wenn dieses Tempo nicht über den ganzen Abend gehalten werden kann. Mindestens zweimal verhaspeln sich die Schauspieler in der Menge an Text und retten sich in die Improvisation. Was dem Spektakel aber keinen Abbruch tut. Im Gegenteil: Ensemble und Publikum nehmen’s mit Humor.

100 SONGS, 21.06.2019, Kammertheater, Stuttgart

Foto: Staatstheater Stuttgart – Björn Klein

Schön zu sehen, dass Routinier Sebastian Röhrle, den wir unter Petras kaum zu sehen bekamen, nun wieder größere Rollen hat und mit perfekt getimten Pointen an diesem Abend einige Highlights setzt. Katharina Hauter scheint sich in der Rolle der verträumten Kellnerin Sally auch wohler zu fühlen als kürzlich in Othellos Desdemona. Kurzum: wir erfreuen uns an einem zeitgemäßen, flott inszenierten Sprechtheater, das Ensemble und Publikum gleichermaßen zu begeistern scheint. Da wollen wir auch nicht daran herummäkeln, dass das Stück manchmal etwas in den Klamauk abzurutschen droht, im letzten Viertel ein paar Längen hat, wir hinter den titelgebenden Songs nicht viel mehr als eine Untermalung der jeweiligen Gefühlswelt erkennen können und der Schluss seltsam unentschieden wirkt. Letztlich haben wir im Kammertheater, das mit seinem intimen Rahmen ideale Voraussetzungen bietet, wieder eine höchst sehenswerte, niemals langweilige und teilweise mitreißende Inszenierung geboten bekommen. Und das Premierenpublikum würdigt dies zu Recht mit langanhaltendem Applaus.

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