DEAR READER, 30.03.2019, InDieWohnzimmer, Stuttgart
Natürlich sind riesige Konzerte faszinierend. Aber auch ein absolut abgekartetes Spiel. Große Boxentürme, opulente Lichtshows, grölende, halbbetrunkene Menschenmassen und ein genauer Fahrplan. Viele Faktoren also, hinter dem man sich zur Not ganz gut verstecken kann… also überlege ich, ob es mehr Mut braucht, die x-te Hallenshow runterzureißen, oder sich quasi alleine mit Gitarre und Klavier einem Wohnzimmer voller gespannt, aufgeregter Menschen zu stellen und zu spielen. Die meisten Wohnzimmerkonzertkünstler machen das wahrscheinlich auch nicht zum ersten Mal, aber die Intimität wäre für mich dennoch bedrückend. Ich habe für mich entschieden: Wohnzimmerkonzerte sind auf ihre ganz eigene Art und Weise nervenaufreibend und meist eine buntere Wundertüte als große Shows. Natürlich auch für das Publikum.
Heute soll absolut kein Zweifel am Konzept der Wohnzimmerkonzerte aufkommen. Zum einen, weil der Act des heutigen Abends, Dear Reader, nach mehr als 10 Bandjahren und vielen, auch großen Konzerten vermutlich nicht besonders nervös ist beim Konzert und zudem höchst sympathisch daher kommt. Und zum anderen weil das InDieWohnzimmer-Duo Claudia und Holger besser organisiert ist als manch ein Club; Mit vorzüglicher und kalter Getränkeauswahl, professionellem Equipment inkl. Klavier und einem Raummanagement, auf das selbst Reiner Bocka stolz wäre. Als alle ein Plätzchen und einen Drink gefunden haben, geht es los und Dear Reader kommt die Showtreppe aus dem ersten Stock herunter.
Dear Reader sind heute Kopf der Band Cherilyn MacNeil und Evelyn Saylor zur Unterstützung am Gesang und Synthie. Eigentlich könnte man den Stil der Band mit Folk Indie beschreiben und damit die Akte schließen. Allerdings ist da mehr. Cherilyn ist noch eine echte Songwriterin, wie es sie nicht mehr so häufig gibt. Oder wie ich es zumindest nicht mehr häufig sehe. Fast jedes Lied erzählt eine Geschichte, manche sehr offensichtlich, manche eher subtil. Besonders hervorzuheben sind dabei die Lieder über das Leben und die Vergangenheit in ihrem Heimatland Südafrika. Alle stammen sie vom Themenalbum Rivonia. Einmal geht es um ihren Ur-Urgroßvater und seine Beziehung zu Mahatma Gandhi (und wie es dazu kam, dass die beiden sich mal ein Bett geteilt haben), das nächste Mal um eine fiktive Wirklichkeit, in der es keinen Krieg in Südafrika gab; „Victory“. Das Lied, vorgetragen in acapella, ist auch gleichzeitig eines der Highlights des Abends. Cherilyn wechselt fröhlich zwischen Gitarre und dem Klavier der Hausherrin, über das sie sich jedes Mal wieder aufs Neue freut. Besonders schön wird es bei den Liedern, bei denen der Folk über den Indie gewinnt und die Stimmen von Dear Reader ihr volles Leistungsvermögen zeigen. Eine Handvoll Passagen gibt es, bei denen der Gesang ein bisschen Musicalfeeling vermittelt. Interessant; im positivsten Sinne.
Kleiner Wehmutstropfen für mich ist der Sitzplatz im Rücken von Cherilyn sobald sie Klavier spielt. Zunächst. Denn dadurch habe ich mehr Aufmerksamkeitsbudget für Sidekick Evelyn. Ganz unaufgeregt und immer breit grinsend verrichtet sie ihren Job hinter dem Synthesizer. Diesem entlockt sie oft Geräusche, die sich nach einem veritablen Horrorfilm anhören. Isoliert würde das, zumindest in meinem Kopf, ein bisschen trashig klingen. Im Gesamtpaket passt es hervorragend. Ebenso ihre Zweitstimme. Mal genau gedoppelt, mal als Echo, mal komplett im Gegensatz zu der Leaddstimme. Aber immer perfekt getimed und abgestimmt setzt sie den Liedern oft das i-Tüpfelchen auf. Wie heißt es so schön; hinter jeder starken Frau steht eine starke Frau. Heute passt diese Binsenweisheit wunderbar.
Nach vier Zugaben inkl. Folk Traditional und „Dancing in the Dark“ zum Mitsingen ist dann Schluss. Zumindest auf der Bühne. Vielen Dank Cherilyn, Evelyn, Claudia und Holger für das Plätzchen im InDieWohnzimmer, die Organisation und natürlich die musikalische Unterhaltung. Hoffentlich auf bald.