DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel, Stuttgart

DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel Stuttgart

Foto: Bernhard Weis

Jetzt mal unter uns: Würdet ihr eure Eltern mit zu einem Gig von Peaches nehmen? Oder gar eure Großeltern? Ganz sicher nicht. Metergroße Vulven als Kostüme, Texte, in denen „Motherfucker“ noch der unverfänglichste Begriff ist und ultraharte Elektrobeats sind sicher nicht das, was man als generationenübergreifendes, familiäres Unterhaltungsprogramm auswählen würde. Wenn diese Show allerdings – quasi als Trojaner – angehängt wird an ein Brecht-Stück, dazu noch in einer Koproduktion von Staatsoper, Stuttgarter Ballett und Schauspiel Stuttgart, dann trefft ihr dort genau solche Leute. (Oder auch den Ministerpräsidenten, den Oberbürgermeister oder die Landtagspräsidentin) Und das Kuriose daran: sie alle haben ihren Spaß.

DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel Stuttgart

Foto: Bernhard Weis

„Die Sieben Todsünden / Seaven Heavenly Sins“ heißt die Produktion, die unter der Regie von Anna-Sophie Mahler auf die Bühne des Schauspiels gebracht wird. Die erste Koproduktion aller drei Sparten (Oper, Ballett, Schauspiel) seit 23 Jahren, raunt es allerorten.

Ganz ehrlich: Wir waren uns nicht sicher, was uns die neue Spielzeit unter der neuen Intendanz von Burkhard Kosminski bringen würde. Eigentlich hatten wir uns gerade an Petras gewöhnt. Der neue Spielplan klang semi-spannend, aber schon der erste Besuch – „Vögel“ von Wajdi Mouawad stand damals auf dem Programm – hat uns eines besseren beleert: selten so top-aktuelles, packendes Sprechtheater erlebt. „Romeo und Julia“ hingegen war ein kompletter Reinfall. Bisher steht es also 1:1.

DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel Stuttgart

Foto: Bernhard Weis

Und nun also unser dritter Versuch: Brecht. Geht eigentlich immer. Wir sind gespannt, ob wir ihn auf der Haben-Seite verbuchen können. Die Geschichte der Anna, die für ihre Familie das Geld für den Erwerb eines Hauses verdienen soll, spielt in einem Box-Ring. (Als Box-Publikum ist auf drei Seiten das Orchester platziert. Die vierte Seite bekommt das Theater-Publikum) Der Ring ist jedenfalls ein griffiges Bild für die Gewalt, die der Kapitalismus dem Individuum aufzwingt. Gespielt wird die Anna von insgesamt vier Akteur*innen: Der jungen Schauspielerin Josephine Köhler, dem Tänzer Louis Stiens, der Ballerina Melinda Witham und eben Peaches. Und so prügelt sich Anna (mit sich selbst) durch die sieben Runden, jede steht für eine der Todsünden. Und zwar mit einer beeindruckenden Intensität. Josephine Köhler ist – auch wenn die Choreographie die Schläge nur andeutet – hinterher tatsächlich gezeichnet. Mit Schürfungen und (echten) blutenden Wunden.

DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel Stuttgart

Foto: Bernhard Weis

Bis hierher gestaltet sich der Abend jedenfalls sehr erfreulich. Die Weill’sche Musik, der vierstimmige Ringrichter-Chor (aka Annas Familie), die großartige Choreografie von Louis Stiens und die allzeit präsente Peaches, das ist ein multimediales Sepaktakel mit großer Intensität. Und es ist der „klassische“ Theaterteil.

Mit einem – vom Publikum begeistert aufgenommenen – Monolog aus Virginie Despentes‘ feministischer Streitschrift „King Kong Theorie“ leitet Josephine Köhler in den zweiten Teil des Abends über. „Seven Heavenly Sins“ von Peaches.

DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel Stuttgart

Foto: Bernhard Weis

Und wie bei Brecht ist der Part wieder in sieben Episoden unterteilt, jede der Todsünden wird mit einem Peaches-Hit präsentiert. Das Setup ist allerdings ein anderes: Peaches schwebt spektakulär vom Himmel herein, wird an einer DJ-Konsole abgesetzt und dann erschüttern fette Beats das ehrwürdige Schauspielhaus. Köhler und Stiens tanzen mit Peaches zu ihren Hits. Auch wenn für mich alle Titel am ehesten nach der Todsünde Wolllust klingen, wird jene einzelne der „Heavenly Sins“ in teils skurrilen, teils drastischen Choreographien zum Electro-Clash-Sound getanzt.

DIE SIEBEN TODSÜNDEN / SEVEN HEAVENLY SINS, 02.02.2019, Schauspiel Stuttgart

Foto: Bernhard Weis

Im Publikum scheinen sich Peaches-Fans zu befinden. Es gibt Zwischenapplaus, es wird gejohlt, das fühlt sich schon eher nach einem Club-Gig an, als nach einer seriösen Hochkultur-Veranstaltung. Letztlich ist es ein Best-Of-Set aus dem opulenten Werk der resoluten Kanadierin. „Vaginoplasty“ gehört ebenso dazu, wie „Dick in the Air“ und der Mega-Hit „Fuck the Pain away“. Das ältere Premierenpublikum lässt dies protestlos über sich ergehen, die Party-People sind begeistert. Der Schlussapplaus ist jedenfalls üppig, „Buhs“ sind keine zu hören, einige „Bravos“ oder gar „Zugabe“ schon. Für uns ist „Die Sieben Todsünden / Seaven Heavenly Sins“ ein klarer Wirkungstreffer: 2:1 für die sehenswerten Neuinszenierungen!

Und selbst wenn dem ein oder anderen das Experiment nicht durchgängig gefallen haben mag, dann greift immer noch der Schwabenfaktor: wann bekommt man schonmal zwei komplette Stücke zum Preis von einem? Und das sogar mit Schauspiel, Oper und Ballett?

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