TOCOTRONIC, 08.04.2018, Theaterhaus, Stuttgart
Dass man mal 25 Jahre in seinem Leben zurückschaut und nicht bei Alter null rauskommt, lustig. Von Tocotronic dürfte ich ca. 1996 das erste Mal gehört haben, da war die Band längst kein Geheimtipp mehr (hier hat sich jemand die Mühe gemacht, alle Auftritte bis 2003 zusammenzustellen, anhand der eigenen Konzerterinnerungen lässt sich zumindest der erste Live-Kontakt dann ganz gut rekonstruieren).
Für mich damals coole Typen aus dem coolsten Ort meiner Träume, Hamburg. Später habe ich die Band mal mehr, mal weniger mitverfolgt. Einzelne Songzeilen gaben Orientierung in unübersichtlichen Lebenssituationen, immer wieder fand ich neue Stücke berührend und herausragend. Warum also nicht auch mal wieder live sehen, die Band?
Ein milder Sonntagabend im April, im Theaterhaus mit Parkhaus ums Eck (nach Schachtel zweitbeste Nightlife-Parksituation), perfekte Rahmenbedingungen. Außerdem immer wieder schön, den Abend mit allen möglichen einem nahestehenden Menschen zu verbringen. Konzerte, einfach das Beste.
Pünktlich um 20 Uhr geht es los. Erwähnenswert ist auf jeden Fall die Vorband, Ilgen-Nur aus (inzwischen) Hamburg. Ilgen-Nurs Debüt-EP ist vor einem knappen Jahr auf dem von Max Rieger von Die Nerven betriebenen Kassetten-Label Sunny Tapes erschienen, liegt am Merchstand aus und ist im Internet und in ausgewählten Plattenläden erhältlich. Zum Release gab es einen respektablen (kleinen) Pressehype. Jetzt ist sie direkt mit Tocotronic auf Tour, optimaler kann man wohl kaum seine Karriere starten.
Musikalisch ist der Sound angelehnt an den schrammeligen Indie-Rock der 1990er, Riot Grrrl und Kate Nash. Inzwischen hat die Wahl-Hamburgerin auch eine Band, alleinige Songschreiberin ist sie selbst.
Die Halle 1 des Theaterhauses ist schon sehr gut gefüllt, an die tausend Leute dürften das sein. Ilgen-Nurs Bühnenpräsenz reicht bis in die letzte Reihe, die phänomenale Stimme sowieso. Sehr entspannt interagiert sie mit Mitmusikern und Publikum, von Unsicherheit oder Nervosität keine Spur.
Zwischendrin erzählt sie, dass sie aus der Gegend kommt und genau hier im Theaterhaus 2011 ihr erstes großes Konzert besucht hat (Kate Nash). Besonders beeindruckend finde ich den letzten Song, „No Emotions.“ In dem Stück kommt Ilgen-Nurs voluminöse, tiefe Stimme voll zur Geltung, inklusive Schrei-Parts (sie darf das). Wow.
Dieses im besten Sinne theatralische Finale bildet eine passende Überleitung zu Tocotronic. Die eröffnen ihre Show mit Ballettmusik von Prokofjew, der Bühnenhintergrund ist ein sternenübersäter Nachthimmel und Dirk von Lowtzow grüßt mit erlöserartig hochgereckten Armen von der Bühne: „Hallo, Stuttgart!“
Erstes Stück ist das Titelstück des aktuellen Albums „Die Unendlichkeit.“ Direkt im Anschluss folgt „Electric Guitar.“ Die Scheinwerfer oberhalb der Bühne erstrahlen in Regenbogenfarben. Sieht super aus, das hätte man auch gerne für daheim.
Beim dritten Song „Let There Be Rock“ bekomme ich Gänsehaut, obwohl ich das Stück früher eigentlich gar nicht so gut fand. Bei „Drüben auf dem Hügel“ muss ich dann fast weinen. Alter, wie schön. Und wir sind erst bei Song vier.
Im Kirmes-Ansager-Tonfall führt von Lowtzow ziemlich redselig durch den Abend. Zwischendrin wird auf die wiederholte Kooperation bei dieser Tour mit Pro Asyl hingewiesen – „ein Applaus für Pro Asyl“. Bei „Aber hier leben, nein danke“ wird das Publikum ausdrücklich mehrfach zum Mitsingen animiert. Schöne Pointe: Der letzte Satz des Songs lautet (zumindest live) „Halt’s Maul, Deutschland.“
Super gefällt mir „Unwiederbringlich“, das von Lowtzow alleine mit Gitarrenbegleitung singt. Die Zeilen: Es gab noch keine Handys / Es war alles Gegenwart / Die Zukunft fand ausschließlich/ In Science Fiction Filmen statt sehen jetzt so hingeschrieben irgendwie banal aus, gesungen war das aber faszinierend und poetisch. So war es mal, aber so ist es eben nicht mehr.
Gegen Ende des regulären Sets wird den Fans gedankt – „25 Jahre Tocotronic wäre nicht möglich ohne Euch.“ Ausreichend Pause für Applaus. „Aber auch nicht ohne uns“. Es folgt die namentliche Vorstellung der Bandmitglieder. Lustiger Gag: „Forever young – forever Jan … Müller.“
Vor dem zweiten Zugabenblock läuft ziemlich lange ein Stück, das ich später als „Die großen weißen Vögel“ von Ingrid Caven identifiziere (nicht shazamable). Ein ziemlich dramatisch vorgetragener Chanson/Schlager. Unmut und Pfiffe aus dem Publikum, „Ab ihr Penner auf die Bühne“, ruft einer neben mir. Hatte kurz vergessen, wie schlimm Menschen sind, jetzt fällt’s mir wieder ein. Die Bühne ist in rotes Licht getaucht und bleibt leer. Irgendwann kommt die Band zurück. Ein langes, dröhnendes Intro, dann die Zeile Ich weiß nicht, warum ich euch so hasse… Haha, nicht schlecht.
Nicht nur ich bin angetan, auch meine Konzertbegleitung (Generation Z, nicht zu übertriebener Euphorie neigend) hat es gefallen. Überlange Konzerte müssen wegen mir meistens nicht sein, aber heute fand ich es passend.
Neid, liebe Madame Psychosis. So würde ich auch gern schreiben können. Allein für daa Wort „shazamable“ gebührt größter Respekt. ;)
Der gute Max Rieger hat das Tape von Ilgen zwar produziert, Sunny Tapes betreibt aber die auch gute Enya Drago.
Hallo Julian, vielen Dank für die Korrektur. Wurde mir auch schon von anderer Seite gesagt. :) Schlecht recherchiert, Mist.