LA CASA AZUL, PARADE, 06.04.2018, Teatro Circo, Murcia
Ängste gibt es ja in allen Aromen, für was hat uns denn Mutter Natur schließlich auch mit so einem prächtigen Hirn ausgestattet. Neben z.B. solch an der Wurzel des eigenen Seins rührenden und beunruhigenden Zweifeln, ob solche Von Storchs tatsächlich eine so große genetische Übereinstimmung mit einem selbst haben können, wie es die Biologie vorgibt, gibt es auch das weite Feld der Ängste um die Gesundheit. Zum Beispiel die Angst, ob der hartnäckige Schluckauf aka Singultus nicht vielleicht doch lebenslänglich anhält. Oder heute Abend während des Konzerts der Ängst-New Entry „Wird diese Gänsehaut je wieder weggehen, oder muss ich jetzt zeitlebens wie ein gerupfter Erpel aussehen?“.
Noch kurz etwas Landeskunde in Sachen Murcia, Spanien. Hauptstadt der Region Murcia, wurden hier schon 52° C gemessen, etwas weiter südlich zahlreiche Spaghettiwestern in Halbwüsten gedreht, und man kann hier wunderbar sein eigenes Spanisch tunen, oder paar Dreiviertelstunden weiter am Meer sich den mitteleuropäischen Winter aus den Knochen bruzzeln. Und man sollte auf jeden Fall Paparajotes probieren, das sind frittierte und gesüßte Zitronenblätter, und dieser Speise danach einen Altar erbauen. Aber vor allem man sollte zu einem La Casa Azul-Konzert gehen, wenn das gerade in town ist.
Das Teatro Circo ist ein restauriertes, ehemaliges Kino mit hübschen Emporen und noch hübscheren Verzierungen im maurischen Stil. Angenehme Größe, topmoderne Ausstattung, zwei Theken mit vier potentiellen Miss España-Anwärterinnen runden das angenehme Ambiente ab. Das gemischte Publikum bietet von zahlreichen Grundschulbesuchern bis zu Indiepopgreisen die volle Altersspannbreite. Gibt es einen Haken? Ja, laut Kumpel José seien die Murcianer tendenziell eher laute Gesellen.
Den Abend eröffnet die Murcianer Pop-Institution Parade. Seit über 20 Jahren betreibt Antonio Galvañ sein Elektropop-Projekt, und sein Einfluss auf die iberische Musikszene ist nicht zu unterschätzen. Nicht nur coverte La Casa Azul einen Song von ihm, auch der Bandname ist dem Text aus einem Parade-Song entliehen, erfahren wir später in einer Ansage.
In einer Trioformation mit zwei Keyboards und einer Gitarre gibt es in dem sehr langen Set viele Songs aus den ganzen Schaffensperioden der Band. Thematisch dreht sich sympathischerweise fast alles um Science Fiction und Zombies. Einzig ein Cover eines Franco Battiato-Songs macht eine Ausnahme. Die etwas sterile Dynamik, vieles kommt gesamplet aus dem Computer, wird durch bezaubernde Popsongs mehr als wettgemacht. Dass Antonio Galvañ in seinem Spock T-Shirt aussieht wie ein Rathausangestellter, der auf die Comic Convention geht, passt genauso zum charmanten Gesamtbild, wie seine leicht effeminierte Art zu reden und zu tanzen. Der Song „Stephen Hawking“ wird natürlich dem kürzlich verstorbenen Astrophysiker gewidmet. Beim Konzert in Frankfurt meinte Belle & Sebastians Stuart Murdoch „We are supposed to be a band for shy people.“. Das kann man hier prima zitieren, um die Musik von Parade zu umschreiben. Parade werden gefeiert. Und ja, das Publikum hat tatsächlich ein paar stark tönende Organe zu bieten.
In der Umbaupause gibt es die kleine, persönliche Erfolgsmeldung, dass jahrelange Spanischlernerei ausreichend ist, vom sehr hilfsbereiten Charlie Balibrea Konzertfotos zu erfragen. Der Dämpfer kommt dann später, als ich während des La Casa Azul Konzert original nicht ein Wort verstehe, was Guille Milkyway in seinen Ansagen von sich geben wird. Muss man sich ungefähr so vorstellen.
Pero no es un problema, weil das Konzert so wunderbar wird, dass irgendwelcher linguistischer Ehrgeiz egal wird. Überhaupt, die Musik von LCA hat ja die bezaubernde Eigenart alles, was schlimm ist, mal kurzfristig egal werden zu lassen. Das wird gleich nach dem ersten Song „Podría Ser Peor“ klar. Es könnte schlechter sein sagt der Titel, was eine gewaltige Untertreibung ist für die Euphorie, die Guilles Musik zu erzeugen weiß.
Im Vergleich zu vor sechs Jahren hat sich etwas getan was die Livedarbietung der Band angeht. Ein echter Schlagzeuger, ein Gitarrist und zwei Bläser unterstützen den weiterhin dominierenden elektrosynthetischen Sound. Geblieben ist der Bühnenhintergrund mit den Monitoren, die mit ihren starken Visuals die Musik so prächtig untermalen. Das sind mal sich symmetrisch bewegende Lichter, mal Bilder von Landschaften utopischem Anstrichs oder des Weltraums, oder eben auch Ausschnitte aus Kampfroboter-Animes wie Goldrake mit denen man als spanisches ebenso wie als italienisches Kind halt so groß wurde.
Die Bläser funktionieren meist prächtig, wie bei „Los chicos hoy saltaran la pista“, aber einmal verhauen sie den Anfang von „Superguay“ komplett. Passiert. Aber der Mix aus allen Schaffensphasen La Casa Azuls euphorisiert die Masse in jeder Minute. Es wird gesprungen, Texte werden lauthals gesungen, man feiert das Leben, die Hoffnung, und den Pop Total von Guille Milkyway.
Es werden diverse neue Songs gespielt, die auf dem demnächst erscheinenden neuen Album „La gran esfera“ zu finden sein werden. Immer noch sehr typisch LCA, scheinen mir die neuen Songs etwas komplexer zu sein, vielleicht etwas gedrosselter im Tempo. Aber trotz allem gehen die neuen Lieder wie „Nunca nadie pudo volar“ gleich ins Ohr, Bauch und Herz.
Immer wieder wird das Set von ruhigen Stücken unterbrochen, in denen Guille sich alleine ans Piano setzt. Lustig in diesen Momenten ist dann immer wieder diese Selbstdisziplinierungspolitik des Publikums, in dem laute Stimmen mit eindringlichen „Pssssssst“ zum Verstummen ermahnt werden. Funktioniert einigermaßen, und man kann bei u.a. „Yo, tambien“ und „C’est fini“ feststellen, dass La Casa Azuls Musik Stärke das hervorragende Songwriting ist. Die Tanzbarkeit, die bpms und das elektronische Discogewand sind quasi nur Beiwerk, es sind die Melodien, die dieses Gefühl totaler Verzückung und grenzenloser Euphorie erzeugen, wie wohl bei keiner anderen Popband dieses Planeten.
Fast zweieinhalb Stunden dauert dieser Rausch, dessen Höhepunkte nicht aufzuzählen sind. Der Rausschmeißer ist eine unfassbar schöne Version von „Como un fan“, die wieder nur von Guille am Klavier aufgeführt wird. Es ist nicht kalt als wir um halb eins in die murcianische Nacht hinaustreten, aber diese verdammte Gänsehaut bleibt.
Parade
La Casa Azul
Vaz Daz Den – hatte ich schon ganz vergessen. Schöne Verdeutlichung.