УТРО (UTRO), 22.03.2018, Komma, Esslingen

YTPO

Foto: Lisa-Marie Stricker

Mit Motorama geht’s stetig bergab. Bei meinem ersten Gig-Besuch, 2014 in der Dieselstraße stand noch eine üppige fünfköpfige Band auf der Bühne, 2016 im Komma waren sie nur noch zu viert – und der Auftritt war eher mittelprächtig. Als sie dann 2017 nur noch dritt im Komma auftraten, befürchtete ich schlimmes. Und das genaue Gegenteil trat ein: Der beste Gig, den sie bisher abgeliefert hatten, fand ausgerechnet in diesem Minimal-Setup statt. Und dass genau diese Stamm-Mannschaft um Vlad Parschin auch das Side-Project Утро (Utro) bestückt, stimmt mich hoffnungsvoll für den heutigen Abend.

Die Selektion

Foto: Lisa-Marie Stricker

Veranstalter Luca Gillian beglückt das Esslinger Publikum aber nicht nur mit regelmäßigen Booking der Band aus Rostov-am-Don; als Sänger der Elektro-Kombo Die Selektion lässt er es sich auch nicht nehmen, mit einen der seltenen regionalen Gigs seiner Band den Abend für seinen Freund Vlad zu eröffnen. Auch die Selektion ist aktuell geschrumpft – und zwar auf ein Duo. Samuel Savenberg, der übrigens 2012 die Position von Max Rieger (Die Nerven) übernahm, ist aktuell anderweitig beschäftigt, z.B. als Produzent von Dillon. Trompeter Hannes Rief und Luca Gillian teilen sich derweil die Arbeit an den diversen Tastengeräten und am Computer. Und produzieren einen von EBM- bis industrial-artigen Beats getragenen Elektro-Sound, der durch Gillians ebenso raumgreifenden wie verzweifelt-exaltierten Vortrag und Riefs sparsam gesetzte Trompeten-Akzente eine ganz eigenständige Farbe bekommt. Gesungen wird deutsch. Nicht nur dadurch, auch optisch und musikalisch drängt sich die spontane Assoziation an den jungen Gabi Delgado und Robert Görl auf. Aber DAF ist ja wahrlich keine schlechte Referenz.

Als Utro dann die Bühne betreten, wirkt alles ein bisschen unfertig: das zum Umbau hochgezogene Bühnenlicht wird kaum gedimmt, die spärlichen Instrumente liegen lose verstreut auf der Bühne herum, ein Tisch mit einem winzigen Keyboard ist Parschins Arbeitplatz. Aktuell klöppelt er aber gedankenverloren mit einem Drumstick auf dem Boden, an seinem Mikrofon, am Schlagzeugständer herum. Der Schlagzeuger nimmt den Beat auf. Und was bis eben noch wie ein spleeniger Soundcheck wirkte, scheint der Einstieg in das Konzert zu sein. Und tatsächlich: der straighte Beat, der monotone, rhythmische Bass – das ist Utro. Dazu einfache Keyboard-Melodien und Parschins entrückter, verhallter Gesang. (Eifrige Besucher in der ersten Reihe weisen ihn darauf hin, das dieser zu leise sei. Dies wird von ihm mit einem seiner raren Lächeln quittiert. Wissend, dass der Soundmann in seinem Sinne arbeitet. Denn die zurückgenommenen Vocals, das ist das Markenzeichen sowohl von Motorama als auch von Utro).

YTPO

Foto: Lisa-Marie Stricker

Ob dies man dies nun Cold Wave oder Post Punk nennt (das Heranziehen der üblichen Vergleichsbands haben mir Konzertfreunde untersagt), es ist jedenfalls eines: minimal. Ganz offensichtlich arbeiten Parschin & Kollegen an einem Langzeit-Projekt, möglichst immer mehr wegzulassen und die Performance auf das allernotwendigste zu reduzieren. Zum einen ist da die Ausstattung mit Winz-Instrumenten (mit der sie in Zeiten der Billig-Fliegerei vermutlich locker innerhalb der Handgepäck-Beschränkung bleiben), zum anderen jeglicher Verzicht auf Licht-Effekte, Deko, Visuals oder gar Ansprachen ans Publikum. Das ist bis auf’s Skelett abgestrippte, pure Musik. Und zwar mit einer erstaunlichen Wirkung. Utro verstehen es nämlich, im Rahmen dieser Selbstbeschränkung eine geradezu zwingende Dramaturgie aufzubauen, die das Publikum zuerst in Bewegung und letztlich in komplette Extase versetzt. Oder wie mein Konzertkumpel breit grinsend bemerkt: einen solchen Abriss habe er im Komma noch nicht erlebt. Und als Parschin zum letzten Titel Пытка (Folter) seine Brille absetzt, wissen wir: auch auf der Bühne ist jetzt maximale Eskalation zu erwarten. Und diese plötzliche Wandlung vom geradezu stoischen Musik-Autisten zum tobenden Berserker, der mit aller Gewalt das Schlagzeug zu zerstören versucht, markiert das Ende und den Höhepunkt. Bravourös! (Und dieses Finale nicht mit einer Zugabe zu verwässern, ist absolut richtig.)

Утро (Utro)

Die Selektion

(P.S.: Auch wenn ich mich sehr freue, endlich mal Die Selektion gesehen zu haben, frage ich vorsichtig: wäre es im Sinne des Minimalismus nicht konsequent gewesen, auch auf eine Vorgruppe zu verzichten?)

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