KETTCAR, 25.01.2018, Theaterhaus, Stuttgart

Kettcar

Foto: Patrick Grossien

Strahlend grauer Himmel, die Scheibenwischer wischen den Niesel von links nach rechts und zurück. In Hamburg sagt man Sommer, oder so. Wir sitzen hinter’m Fahrer, der Bus fährt los. Die Herren von Kettcar, alle fünf in zurückhaltendem Schwarz gekleidet, betreten die schlichte Bühne. Im Hintergrund eine Videowand, allerdings nicht durchgängig sondern in Form von mehreren Stangen, ähnlich dem Monolithen aus 2001 – Odyssee im Weltraum, auf denen das Video mit den Busfahrt-Impressionen läuft. Richtung „Trostbrücke Süd“ zur Endstation Niedergang, von dort aus weiter zum „Balkon gegenüber“. Alltagsbeobachtungen im Midtempo. Die Setlist der kommenden rund 100 Minuten wird gut gemischt sein, mit allen Hits der nunmehr 16-jährigen Bandgeschichte und manch lange nicht mehr gehörten Perle. Und natürlich mit Liedern vom neuen Album „Ich vs. Wir“, das fast vollständig gespielt wird.

Irgendjemand sagt: „Gutmensch“ und du entsicherst den Revolver!

Es klingt immer sehr prätentiös, wenn im Kontext von Popmusik von „Relevanz“ und „Wichtigkeit“ gesprochen wird. Und doch hatte man zuletzt das Gefühl, dass ein neues Album von Kettcar nötig wäre, dass wir neue Lieder und Texte von Kettcar brauchen. Dabei sind sie keine Parolenband. Dazu sind die Geschichten, die Sänger Marcus Wiebusch in seinen Texten erzählt, zu poetisch. Mit Pathos, aber ohne Peinlichkeiten, und so präzise auf den Punkt, dass man sich jede zweite Zeile auf den Unterarm tätowieren lassen möchte. Oder mit gereckter Faust in den Nachthimmel grölen. Die ganze Scheiße mitsingen können eben.

Kettcar

Foto: Patrick Grossien

Zum Beispiel die Single-Auskopplung „Sommer ’89“, in der von einem DDR-Fluchthelfer an der österreichisch-ungarischen Grenze erzählt wird. Auf dem Video-Monolithen im Hintergrund läuft dabei das dazugehörige Musikvideo. Wie ein kleiner Spielfilm bebildert es die Gesichte und verleiht dem Ganzen eine Dringlichkeit, die einen, trotz tanzbarem Uptempo-Refrain, berührt.

„Wir sind ja jetzt Polit-Punker“ scherzt Wiebusch bei einer Ansage, auf die Kritiken zum aktuellen Album anspielend, um damit augenzwinkernd einen Block von drei Liebesliedern am Stück anzusagen, die „aber nicht alle gut aus gehen“. Die Befindlichkeitsfixerung ging natürlich nicht verloren.

Wenn du das Radio ausmachst, wird die Scheißmusik auch nicht besser.

Älterwerden, ein anderes Thema. Ein Gruß an die Zwanzigjährigen im Publikum, ein Großteil ist natürlich eher Ü30. „Graceland“ Baby, man ist tot oder jung. Wiebusch hält sich zwischen den Ansagen immer mal wieder die Arme nach hinten als hätte er Rücken. Rock’n’Roll mit Mitte Vierzig. Aber von solchen Widrigkeiten lässt sich hier und heute keiner Aufhalten. Vor der Bühne bildet sich ein Schubskreis, vereinzelt fliegt ein Bierbecher. „Deiche“ brechen richtig, oder eben nicht.

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Foto: Patrick Grossien

Vor dem Zugabenteil ruft jemand mehrfach „Ehrenfeld“. Martin Bechler, der als Fortuna Ehrenfeld den Abend mit seinen beiden Begleitmusiker/innen an Keyboard und Schlagzeug eröffnet hat, kam offensichtlich gut an. Im Schlafanzug und mit Federboa sang er mit lakonischer Stimme Gitarre spielend vor einem recht aufmerksamen Publikum seine ruhigen Lieder, die gerne mal laut endeten. Eine ganz passabler Auftritt, den ich gerne aber mal in einem intimeren Rahmen sehen würde. Auf die Bühne kam er natürlich trotz der Rufe nicht zurück, dafür eine andere kleine Überraschung. Ein unerwarteter emotionaler Höhepunkt mit der Coming-Out-/Fußball-Hymne „Der Tag wird kommen“. Überraschend, weil es ja kein Kettcar-Song, sondern vom Wiebusch-Solo-Album „Konfetti“ ist. Eine Gang, ein Team, ein „You’ll never walk alone“. Ein Brett vom einem Song, erst recht Live gespielt.

Also tragt es in die Welt, haut es mit Edding an die Wände,
solang die dicke Frau noch singt ist die Oper nicht zu Ende.

Es war ein Abend in der Wohlfühlblase unter Freunden, an dem man mit einem guten Gefühl nach Hause geht und wieder Kraft getankt hat, um es mit den Widrigkeiten des Alltags aufzunehmen. Und um sich nicht von den verbitterten Idioten verbittern zu lassen.

Kettcar

Foto: Patrick Grossien

Kettcar

Fortuna Ehrenfeld

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