HEIMSPIEL KNYPHAUSEN, Tag 2, 22.07.2017, Draiser Hof, Eltville-Erbach

HEIMSPIEL KNYPHAUSEN, Tag 2, 22.07.2017, Draiser Hof, Eltville-Erbach

Foto: Michael Haußmann

Tag zwei des Heimspiels Knyphausen beginnt für uns mit einem ausgiebigen Frühstück in der Landeshauptstadt und bei der Ankunft am Weingut mit der Erkenntnis, dass ca. 95% der ca. 2.000 Besucher*innen es früher aus den Puschen schafften als wir. Also platzierten wir die für alle wohl obligatorische Picknickdecke eben nicht im Bereich vor der Bühne, sondern am Rand der ersten Reben. Irgendwie auch besser, da wir dann gezwungen waren vor die Bühne zu kommen und zu stehen – ein zum Großteil in Picknick-Atmosphäre sitzendes bzw. liegendes Publikum war letztes Jahr für Die Nerven schon eine Herausforderung.

HEIMSPIEL KNYPHAUSEN, Tag 2, 22.07.2017, Draiser Hof, Eltville-Erbach

Foto: Michael Haußmann

Für den ersten Act des Tages, Lùisa aus Hamburg, die uns bis dahin nicht bekannt gewesen ist. Ein kurzer Check im Internet verspricht „eine junge, moderne und sehr talentierte Künstlerin“ – na dann! In etwa so ist dann auch das, was wir zu hören bekommen. Eine junge, moderne Stimme, deren Klangfarbe an Adele erinnert und die mit Akustik-Gitarre und Loop-Station flotten Singer-Songwriter-Pop darbietet. Die perfekte Musik, um am Samstagnachmittag zu zwei Flaschen Weißwein seinen Decken-Platz perfekt einzurichten, etwas wegzudösen oder die lebensprägende Erfahrung eines Spundekäs-Eises (!) zu machen. Dabei ist dann wahrzunehmen, dass Lùisa gegen Ende ihres Sets etwas mehr ihre Stimme aufmacht und einen Beat unter ihre Songs legt, sodass sich alle auf dem Gelände langsam eingrooven können.

HEIMSPIEL KNYPHAUSEN, Tag 2, 22.07.2017, Draiser Hof, Eltville-Erbach

Foto: Michael Haußmann

Überhaupt muss man an dieser Stelle einmal das zielsichere Booking des Festivals hervorheben. Mit sicherer Hand wird hier perfekt zur jeweiligen Tageszeit der passende Sound präsentiert und somit ist Lùisa folgerichtig zu Beginn des Festivaltages die passende Künstlerin zum entspannten Zuhören. Und so steigert sich mit Locas In Love der Gitarrensound und motiviert sichtbar mehr Besucher*innen, sich das Set im Stehen anzuhören. Im Januar des letzten Jahres durfte ich die sympathische Kölner Band schon einmal beim Pop-Freaks-Festival im Merlin erleben. Was mir dieses Mal besser gefällt, ist der häufigere Ausbruch aus dem eher gemütlichen Grundsound der Band. Die häufiger eingesetzten, verzerrten Gitarrensounds und stehengelassene Akkorde gefallen mir gut. Aber auch dieses Mal gefallen mir die ausgelassenen Passagen und Songs besser: Wie schon beim letzten Mal überzeugt der Song „Da ist ein Licht“ und dieses Mal auch „Ruinen“. Im Prinzip klingen Locas In Love für mich wie die Element Of Crime der Nullerjahre. Und genau deswegen könnten es für meine Begriffe gerne etwas mehr dieser Ausbrüche geben.

HEIMSPIEL KNYPHAUSEN, Tag 2, 22.07.2017, Draiser Hof, Eltville-Erbach

Foto: Michael Haußmann

Am frühen Abend gibt sich dann der Gastgeber Gisbert zu Knyphausen himself die Ehre. Letztes Jahr noch durch ein Gipsbein verhindert, lässt er es sich dieses Mal nicht nehmen, einen musikalischen Beitrag zu leisten. Nun könnte man denken, dass es schon etwas egozentrisch ist, als Gastgeber den guten Slot als vorletzter Act am Samstag selber zu übernehmen – vor allem im Hinblick auf sein im Herbst erscheinendes neues Album. Aber um ehrlich zu sein, sobald der Auftakt erklingt, sind solche Gedanken vergessen. Ich kenne die Lieder nun auch schon einige Jahre, trotzdem verlieren sie nicht einmal im Ansatz etwas von ihrer Stärke: Schöne Melodien treffen auf poetische Texte treffen auf spannende Arrangements. Schöne Melodien schreiben einige. Bei poetischen Texten wird es schon dünne, ohne dass es kitschig wird. Arrangements, die auch mit der alleinigen Instrumentierung einer Akustik-Gitarre interessant sind, gibt es ganz wenige. Zudem ist bei Knyphausen der bei Musiker*innen häufig vorkommende Umstand zu erkennen, dass mit dem Beginn jedes Songs die Selbstsicherheit um ein Vielfaches zunimmt. Wenn man diese ganzen Faktoren addiert, ist es kein Wunder, dass es Knyphausen schafft, ein großes Publikum in Weinlaune in seinen Bann zu ziehen. Keinen Mucks hört man und wie schon im Herbst beim 33. Geburtstag des Merlin halten sich alle mit ihrer Begeisterung zurück, bis der letzte Ton jedes Songs verklungen ist. Nur in Lourdes oder anderen Wallfahrtsorten wird man zur gleichen Zeit so viele entrückte, andächtige Menschen sehen können. Die Kirsche auf dem Eis, das Tüpfelchen auf dem I ist dann noch ein musikalischer Gast: Karl Ivar Refseth, seines Zeichen Vibrafonist bei The Notwist, begleitet Knyphausen bei einer Reihe von Liedern und das ist schlicht großartig. Ihm gelingt es, manche Passagen zu betonen, manche zu untermalen, Akzente zu setzen oder ganze Melodiebögen zu spielen. Eine wunderbare Mischung und definitiv ein Highlight dieses Festivals.

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Foto: Michael Haußmann

Zu guter Letzt wird an der Schraube des Experimentellen noch ein gutes Stück weitergedreht, indem The Notwist ein krachendes Set in die Sommernacht hinausschleudern. Ich muss gestehen, dass ich ohne große Erwartungen bezüglich dieser schon altgedienten Gruppe angereist bin. Ich habe in den letzten Jahren schon einige Versuche unternommen, mir die Produktionen der ursprünglich aus Oberbayern stammenden Musiker anzueignen, bin jedoch immer wieder daran gescheitert – vielleicht war es immer das falsche Album (der zahlreich erschienenen) zur falschen Zeit, ich weiß es nicht. Am Samstagabend hauen mich die sechs Musiker um die beiden Brüder Markus und Micha Acher von den Socken. Eine mit stellenweise ungezügelter Wucht dargebotene Mischung aus Rock und Punk-Elementen, gekleidet in ein elektronisches Gewand. Songs gehen ineinander über und entwickeln sich zu minutenlangen, scheinbar improvisierten Sound-Experimenten, bis sie mit einem treibenden Beat die meisten vor der Bühne zum Tanzen bringen, nur um irgendwann wieder in der Destruktion zu enden, was wiederum der Anfang eines neuen Sounds ist. Das ist so überzeugend und bringt so viel Vergnügen mit sich, dass ich über die mir zu wenig präsente Stimme hinwegsehen kann. Vielleicht würde eine druckvollere und prägnantere Stimme auch nicht zur Musik passen – wer weiß.

HEIMSPIEL KNYPHAUSEN, Tag 2, 22.07.2017, Draiser Hof, Eltville-Erbach

Foto: Michael Haußmann

Lùisa

Locas in Love

Gisbert zu Knyphausen

The Notwist

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