EXPERIMENTAL SCENT SUMMIT, ART + OLFACTION AWARD 2017, 05.-06.05.2017, Silent Green, Berlin

Foto: Michael Haußmann

Die Welt gerät aus den Fugen: Die Briten treten aus der EU aus, Amerika wählt Trump, Marine Le Pen ist im Endspiel um den französischen Thron. Und fast noch schlimmer: Euer geliebter gig-blog-Fotograf Micha schreibt auf einmal über Parfum. What’s next? Helmut Kohl wird Bundestrainer? Xavier Naidoo singt beim Superbowl? Wir leben in einer unsicheren Welt voller böser Überraschungen.

Also gut. Berlin. Berlin. Wir fahren nach Berlin. Schnell noch einen Baldessarini-Anzug und Prada-Schuhe für billiges Geld beim Internet-Second-Hand-Händler des Vertrauens geschossen, die halbvollen Bierbüchsen aus dem Auto entfernt (und schön ordentlich für die Pfandsammler hingestellt, eh klar), Flieder auf die Lüftung gelegt und ab auf die Autobahn. Bayreuth, Bitterfeld, Lederhose, Brandenburg. Mit dabei: Uli und Harmen, die fraglos exquisitesten Textkreateure weltweit in Sachen Nischenparfum.

Foto: Michael Haußmann

Nischenparfum. Der Indie der Düfte. Kostbarer Luxus. Wertiger Luxus. Wie ein schnurrender Maserati. Die Extension des Ichs. Gerne mit einer interessanten, besonderen Geschichte dahinter. Gemacht von feingeistigen und bis in die Haarspitzen passionierten Künstlern. Man wird automatisch ein besserer Mensch sobald man sich darin einhüllt. It‘s the very best. You will love it.

Genug abgeschweift. Mehrere Raststätten, Bechercappucinos und Sanifair-Gutscheine weiter wartet schon Saskia Wilson-Brown auf dem Berliner Gipfel der feinen Künste und Düfte auf uns. Sprich: Ein Tag Experimental Scent Summit. Saskia ist eine Kosmopolitin in Reinform. Cubanische und britische Wurzeln, aufgewachsen in Frankreich, arbeitet in den Staaten. Ursprünglich kommt sie aus dem Filmbusiness, hat schon Sachen mit Madonna und Al Gore gemacht und wuppt heute das kleine aber feine Institute of Art and Olfaction in L.A. Ganz schöne dicke Vita, ganz schön unkomplizierter, liebenswerter Mensch. Auf dem Boden ihres Instituts sprießt und gedeiht viel Neues, Künstlerisches. Mit Düften oder profaner: Mit Gerüchen. War längst mal fällig, dass jemand so einen Laden aufmacht. Zu Unrecht total vernachlässigt bisher das Thema.

Foto: Michael Haußmann

Die Berliner Location hat sich gewaschen: Silent Green heißt das ehemalige Krematorium direkt neben dem wunderschön morbiden Urnenfriedhof Wedding. Auf dem Krematoriumsgelände wird heutzutage aber nur noch Tabak verbrannt bzw. viel eher elektrisch verdampft. Weil: Ganzjährig Hipsteralarm.

Eine illustre Runde aus aller Welt hat sich im Workshop-Raum eingefunden. Da sitzen legere Griechen neben Typen, die aussehen wie Prince, eine komplette Herr-der-Ringe-Besetzung könnte man hier casten. Einer ist in seinem Gehrock sogar per Zeitmaschine aus der viktorianischen Zeit angereist. Ich überlege kurz, ob ich mich mit ihm stilvoll duellieren soll auf dem benachbarten Friedhofsgelände. Der Gedanke wird aber umgehend wieder beerdigt, weil: Dem Anschein nach äußerst höflich und integer der junge Herr. Es gibt Hipster-Tee aus dem Glas, die sehr sehr teure Handtasche baumelt ganz unschuldig neben dem very britischen Nastygirl. Rrrrrrr!

Foto: Michael Haußmann

Und dann gehen sie los, die Fachvorträge. Ein Parforceritt durch viele, sehr viele Gehirne der Branche. Zum Start bekommen wir ein Video mit zaubernden Ballerinagirls verabreicht. Nebenher beduftet uns Andreas Wilhelm, ein eidgenössischer Lausbubentyp, der seinem Parfum den schönen Namen „Perfume Sucks“ gegeben hat, mit Hilfe eines mitgebrachten Ventilators. Am Schluss schnallt er sich den Rotor dann um und ich denke mir, so würde Karlsson vom Dach aussehen, wenn Astrid Lindgren Schweizerin gewesen wäre. Reto Karlmacher vom Dächli hätte er dann vielleicht geheißen. Aber egal, weil die Astrid war ja dann doch zu 100 % Schwedin.

Smell of Data heißt ein anderes Projekt, bei dem ein Gerät shady Internetangebote durch Gerüche besser erkennbar machen soll. Das mehreckig-transparente, bunt-kabelbestückte Device ist leider nur auf dem Powerpoint-Slide zu sehen. Weil: Am Flughafen Schipol beschlagnahmt.

Foto: Michael Haußmann

Andere Referenten schwelgen in ihren Duftassoziationen und werfen Formeln an die Wand, Insta-Fotos werden schnellschnell durchgeklickt. Aus dem Nichts heraus sind wir plötzlich im Amazonasbecken, dann wieder ganz woanders. Es werden mal kurz Cremes und Duftstreifen herumgereicht und ausgiebig appliziert beziehungsweise beschnuppert. Ein atemberaubendes Tempo wird hier vorgelegt. Blue Flame ist nichts dagegen.

Faszinierende Kunstprojekte werden besprochen: Eine Edelstahlbox, in die man sich hineinlegt und dem Geruch aussetzt, den Lady Di oder J.F.K. in der letzten Minute ihres Lebens in der Nase hatten. Auch das Thema Virtual Reality fasziniert mich sehr. Der Duft der heimischen Wohnung, Oma ist gerade da und hat noch warmen Rhabarberkuchen mitgebracht. Aber das ist alles nur eine Projektion mit Hilfe der Datenbrille und anderen technischen Vorrichtungen, während man gerade im Kriegsgebiet im Einsatz ist. Willkommen in der Matrix. Gleichzeitig aber: Why not. Ohne das mit dem Krieg versteht sich natürlich. Im Pausengespräch gewinnen wir schnell die Einsicht, dass das alles natürlich auch sehr profitabel für die ganzen Internet-Ferkeleien eingesetzt werden könnte. Werden wird eher, weil die P-Branche so dermaßen formidable Umsätze erwirtschaftet.

Und irgendwann am Nachmittag, als sich die Augendeckel so gerne der Schwerkraft hingeben würden, passiert es: Ein großer, mächtiger Künstler betritt die Bühne: Wolfgang Georgsdorf steht vor uns. Glatze. Bauch. Hosenträger. Wahlweise keine, eine oder zwei Brillen auf der Nase. Coole Sau. Er nimmt uns mit seinen Ausführungen schneller gefangen, als je ein Duft die Nase erreichen könnte. Der Lucky Luke der Begeisterung. Er stellt uns sein Projekt Smeller 2 vor, eine elektronischen Geruchsorgel, mit der Georgsdorf sogenannte „Synosmien“ wie „Osmodrama“ vor verschiedesten Menschen aufführt. Sehr sehr geil das!

Foto: Michael Haußmann

Danach ist irgendwie die Luft raus, es folgt noch so eine Art halblebig-brünftiger Wal-Gesang mit Ventilatorenbeduftung und Glöckchengebimmel, ich bin sowas von raus. Meine Sinne schmerzen, instinktiv muss ich an den Taubenmensch aus Helge Schneiders Praxis Dr. Hasenbein denken. Mir wird ganz blümerant. Nuja sage ich mir da, zuviel Gutes und Tolles auf einmal macht ja eh bloß barock-selig, muss ja nicht bis zum Exzess sein. Ab und zu am Thrash riechen erdet ja immer wieder ganz gut.

Foto: Michael Haußmann

Am nächsten Tag wird erstmal sowas von ausgeschlafen, mein einzig wahres Talent. Auch wenn Ihr denkt, ich kann mindestens genauso gut am Kopfkissen lauschen wie der Micha, kann es trotzdem nur einen Grandseigneur des gepflegten Abliegens geben. Le roi de dormir c’est moi mes chèrs amis.

Zurück im Krematorium geht es dann so gegen 18 Uhr los. Falls es jemanden interessiert: Ich habe Le Dandy von Parfums D’Orsay aufgelegt. Pflaume halt. Aber in richtig gut. Meine Begleiterin hat ein Parfum angezogen, das es noch gar nicht zu kaufen gibt, dem aber bald die ganze Welt verfallen sein wird.

Heute stehen die vierten Art + Olfaction Awards an. In vier Kategorien werden Auszeichnungen verliehen: Den Art and Olfaction Artisan Award können nur Häuser bekommen, in denen der Parfumeur selbst der Inhaber ist. Daneben gibt es die Kategorie Independent, deren Bedeutung sich mir irgendwie nicht final erschlossen hat. Indie halt. Nummer drei ist der Sadakichi Award für Experimentelles außerhalb der kommerziellen Parfumeriebranche und für das Lebenswerk gibt es den Contribution to Scent Culture Award.

Los geht es aber erstmal mit Drinks auf’s Haus im Mars, der Bar des Vertrauens im Silent Green. Weißwein, Hallo-Hallo, Aha-Aha, How-Are-You, How-Are-You, Alle-sind-gut-drauf-und-teuer-angezogen.

Foto: Michael Haußmann

Sofort läuft uns Leo Crabtree in die Arme, seit 2008 Drummer bei The Prodigy. Ich möchte ihm auf Knien danken, dass er heute so einen geilen Style hat. Sofortiger Beschluss: Im nächsten Leben möchte ich so sein wie er. Aber auf einmal qualmt es dermaßen aus seinem wahnsinnig chiquen Jackett. Instinktiv halte ich Leo für einen Magier, sprich große Bewunderung, aber dann greife ich doch ein und wir ziehen den wild evaporierenden Evaporateur aus seiner Innentasche, alles gut, alles wieder safe, der Defibri kann wieder in den Schrank.

Als ich dann exklusiv für Euch auf der Freitreppe die aktuelle Mode und die exaltierte Abendgesellschaft fotografiere, spricht mich auf einmal ein weibliches Etwas an. Typmäßig zwischen überreifem Wanna-Be und Guckt-alle-her-in-welchen-tollen-Kreisen-ich-verkehre. Love is in the air. Mit Minusvorzeichen. Sie befiehlt mir, eine schmeichelhafte fotografische Aufnahme von ihr und ihrem Mann zu fertigen. Und zwar pronto-pronto. Hält mich wahrscheinlich für den obligatorischen Society-Fotografie-Knecht. Diese Berufsgruppe erhält nachträglich ein stattliches Sümmchen Mitleid von mir aufs Konto überwiesen. Außer wenn die Standesangehörigen alle auf Dominas stehen natürlich. Tut mir echt wirklich richtig leid für Euch, Ihr Opfer. Und „dieses Licht“ soll ihr das nicht mehr ganz frische Gesicht umschmeicheln wir ein Seidentuch eine in der Sonne verschnurzelte Rosine. „Ich schick Disch die Datei und dann kann Deine Mudda ja Photoshop Alder!“ möchte ich ihr freundlich-vernichtend zurufen. Aber wie Ihr ja alle  wisst bin ich bin ja immer so ein Netter und drücke halt ab. Leider nicht an der automatischen Schnellfeuerwaffe, sondern auf ihrem güldenen Smartphone, das im Abendlicht glänzt wie ein frisch eingeölter Broiler auf dem Supermarktparkplatz-Grill. Beim Retournieren des supersexy Apfeltelephons werde ich dann mit exquisitester Anerkennung für meine Kunst bedacht, um nicht zu sagen überschüttet: „Völlig einfallslos! Das kann ja meine Nichte besser!“ Ich möchte sie sofort küssen. So very not. Nicht für viel viel Geld.

Foto: Michael Haußmann

Auftritt Mark Buxton. Roter Hut, Al Capone Look, Flasche Wein am Wickel, alle wollen bei ihm sein, der final gesteigerte Superlativ von cool. Daneben ein Name-der-Rose-Mönchs-Dude mit Handgranatenkette und gold lackierten Fingernägeln. Spontan möchte ich aus der Kirche austreten, merke aber, dass ich das schon vor ein paar Jahren präventiv gemacht habe. Spätestens jetzt begreift selbst einer wie ich: So also geht Extravaganz. Copy that.

Eigentlich hätte ich auch mit Sissel Tolaas gerechnet, die für meinen Geschmack die interessantesten und coolsten Dinge in Sachen Düften und Gerüchen macht. Was für eine Frau. Aber sie ist heute nicht da. Schade. Ich hätte gerne mit ihr geplaudert. Sissel, we love you, see ya next time!

Foto: Michael Haußmann

Und dann irgendwann Ansage: Alle reinkommen in die gute Stube, rein ins zentrale Oktogon! Früher ein Ort für Trauerfeiern, heute werden so eine Art von Bambis in der Disziplin Art and Olfaction verliehen. Die Preise: Goldene Ananas ääh Birnen. Habt Ihr früher auch die Abenteuer von Birne gelesen? Kennt kein Mensch mehr. Hong Kong Phooey kennt auch niemand mehr. Aber das tut jetzt absolut nichts zur Sache.

Foto: Michael Haußmann

Ganz bezaubernd sieht Saskia heute Abend aus in ihrem blauen Kleid. Modetechnisch ein Killer. Los geht’s mit der Kategorie Artisan. Sprich Parfumeur = Eigentümer des Ladens. Die erste Birne geht an Claire Baxter mit Bruise Violet by Sixteen92, leider heute abend physisch nicht anwesend. Damit meine ich Claire, ihr Siegerduft wird natürlich schön rumgereicht. Wohl bekomm’s. Sogar eine zweite Artisan Birne wird vergeben, und zwar an Pissara Umavijani, die uns die herzerweichende Geschichte zu ihrem Duft Mélodie de l’Amour by Parfums Dusita erzählt. Sie verrät uns, dass der von ihr kreierte Duft durch ihren Vater, den thailändischen Dichter Montri Umavijani inspiriert ist. Er hat ihr anscheinend nie gesagt, dass er sie liebt. Obwohl er tolle Gedichte über die Liebe geschrieben hat: Der schöne Satz „Mein Gefühl für dich ist wie eine Blume, die in einem leeren Raum blüht“ stammt beispielsweise von ihm. Als Pissara uns dies erzählt, hält sie kurz inne und schluchzt. Im deutschen DSDS-Topmodel-Fernsehen würde diese Szene jetzt mindestens zwanzigmal wiederholt, bis zum Erbrechen kommentiert und bis zur Unkenntlichkeit zerpflückt. Hier heißt es nun: Taschentuch raus, einfach mal spontan gerührt sein.

Jetzt sind die Independent Awards dran: Altruist von J.F. Schwarzlose ist der erste Gewinner, tobender Applaus weil aus Berlin. Die zweite Indie-Birne geht an Leo Crabtree mit seinem Parfum Fathom V. So ist´s nunmal im Leben: Die einen sind dermaßen cool, sehen super aus, haben Style, gewinnen alles, die anderen stehen im Schatten und schütten sich Filterplörre auf’s Hemd. Egal.

Auch mein Held Wolfgang Georgsdorf gewinnt mit seinem Geniestreich Osmodrama eine Goldfrucht, die im Antlitz seines strahlenden Charismas fast zu verglühen droht (Sadakichi Award, zusammen mit Starparfumeur Geza Schön). Und zu guter Letzt bekommt auch der Super-Duper-Starparfumeur Christophe Laudamiel eine Birne für sein Gesamtwerk, das olfaktorische. Ein Leben für den Duft.

Foto: Michael Haußmann

Abschlussfoto. Selfies, Küsschen links, Küsschen rechts, schnell noch checken wer später mit in den Kitkatclub kommt. Im Rahmen der Aftershowparty erfahre ich viel über den Nischenparfummarkt, Grauimporte, Leute, die komplett einen oder mehrere an der Waffel haben undundund. Ich nippe viel an Gin Tonics und mein Hirn meldet langsam aber sicher: Dropbox voll. Also raus auf die Straße, Taxi herbeigewunken und ab in Richtung der himmlisch weichen Hotel-Heia.

Gethrilled und mit süß duftenden Erinnerungen an meinen äußerst kurzweiligen Besuch im Reich der schönen und verführerischen Düfte gebe ich auf und lasse mich in die wohlig-warme Schwerelosigkeit fallen. Irgendwie bin ich schon ein wenig infiziert von diesem ganzen Chichi. Und obwohl die Welt immer noch völlig aus den Fugen ist, spüre ich auf meiner kleinen Luxusinsel mitten in Berlin einen wohlklingenden Akkord, den das Wochenende bei mir hinterlassen hat. Sachen gibt’s.

Foto: Michael Haußmann

Experimental Scent Summit

Art + Olfaction Awards 2017

2 Gedanken zu „EXPERIMENTAL SCENT SUMMIT, ART + OLFACTION AWARD 2017, 05.-06.05.2017, Silent Green, Berlin

  • 13. Mai 2017 um 09:36 Uhr
    Permalink

    Es gibt wenig, das ich so hasse wie Parfum – aber ich liebe, wie Du schreibst. Vielleicht solltest du bei Cessna wieder beides übernehmen :-*

  • 14. Mai 2017 um 22:38 Uhr
    Permalink

    Aufgarkeinenfall! Sonst krieg ich mein Deutsch-Abi von 1891 noch nachträglich aberkannt wenn ich so weitermach. Außerdem: Im Goldmark’s kann ich zero Notizen machen. Weil: Eine Hand am Abdrücker, in der anderen schön das Augustiner Hell. Aber ich freu mich natürlich schon auf die Slim Cessna Messe. Brauch mal wieder Ablass für meine zahlreichen Sünden.

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