DESPERATE JOURNALIST, NERVOUS TWITCH, 11.04.2017, Goldmark’s, Stuttgart
Jesses, jetzt fühle ich mich mächtig unter Druck. Weil ich über die großartigen Desperate Journalist aus London schreiben soll und ich weiß, dass die viele Gig-Blog-Kollegen sehr mögen. Vor allem nach ihrem bockstarken Auftritt im April vergangenen Jahres in einer Stuttgarter Off-Location am Nordbahnhof. Das war schon ein echtes Brett, das mich gleich im Anschluss ordentlich verschwitzt zum Plündern an den Merch-Stand getrieben hatte. Heute haben sie ihr zweites Album „Grow Up“ im Gepäck. Also gut, dann mal los.
Der Verein InDieWohnzimmer hat die Londoner ein zweites Mal eingeladen. Normalerweise treten dessen musikalische Gäste in einem Feuerbacher Wohnzimmer auf. Hin und wieder, wenn dieses aus allen Nähten zu platzen droht, wird auf andere Off-Locations der besseren Art ausgewichen. Diesmal ist es das Goldmark’s, der Stuttgarter Club, wenn es um subversive Rockmusik geht. Insgesamt also eine Kollaboration, bei der eigentlich nur Gutes herauskommen kann. Das Wetter passt, gute Freunde links und rechts und jede Menge sehr nette Menschen vor Ort. Wir entspannen erstmal mit einem Bierchen draußen vor dem Goldmark’s, wie die Post-Punker Desperate Journalist übrigens auch. Gegründet haben die sich 2013 im Norden Londons und ihren Namen einem Stück von The Cure entliehen.
Schnell die Flasche geleert, bevor es nach drinnen geht. Als ich mich so umschaue, wird mir klar, dass Gig-Blog-Liebling Svavar Knútur Konkurrenz bekommen hat. Wer von den Kollegen ist denn eigentlich heute nicht da? Relativ pünktlich gegen 20.30 Uhr bespielt dann erstmal das Garage-Pop-Punk-Trio Nervous Twitch aus Leeds die Bühne des rappelvollen Goldmark’s. Ziemlich flott, irgendwo zwischen Ramones und Surfpunk mit sehr sympathischer Frontfrau. Die lässt sich auch nicht aus der Ruhe bringen, als das Mikro kurzzeitig versagt. Das Publikum honoriert es mit ordentlich Applaus. Nach einer Dreiviertelstunde ist der Club jedenfalls warmgerockt und das vom Alter her eher reifere Publikum erwartet gespannt den Hauptact.
Als Desperate Journalist dann die Bühne betreten, stimmt die Energie vom ersten Ton des Openers „I try not to“ an. Die Band hat Ausstrahlung, vor allem dank der extrem charismatischen Frontfrau Jo Bevan, von der man seinen Blick gar nicht mehr abwenden möchte. Und dafür macht sie gar nicht viel. Muss sie auch nicht. Sie wuschelt sich gern durch die kurzen Haare, schlägt sich gelegentlich das Mikro gegen die Schulter und wickelt sich das blutrote Kabel immer wieder um den Hals, als ob sie der Welt Lebewohl sagen wollte. Sie leidet einfach wunderschön während sie auf sehr britische Weise von Existenzängsten und Trauer singt. Ihre kraftvolle und facettenreiche Stimme verleiht den Songs eine unglaubliche Präsenz und Intensität. Sowieso lassen die vier – nebenbei äußerst fotogenen – Musiker ihre Musik für sich sprechen.
Große Posen sind nicht ihr Ding, ebensowenig wie große Worte. Geredet wird eigentlich gar nicht. Soweit ich mich erinnern kann, nennt Jo Bevan nicht einmal den Bandnamen. Sowas mag ich. Gitarrist Rob Hardy und Bassist Simon Drowner verschmiert der Kajal, während Schlagzeugerin Caroline Helbert nicht mal ins Schwitzen zu kommen scheint. Der tänzelnde Bass, die kantige Gitarre und Bevans ausdruckstarker Gesang nehmen das Publikum gefangen. Das ist kraftvoll, das ist intensiv und erinnert an einige der ganz Großen wie The Smiths oder Joy Division, ohne es aber an Eigenständigkeit missen zu lassen. Manchmal fühle ich mich auch an die Cranberries erinnert, jemand anders an Wendy James von Transvision Vamp. Am Ende sind aber doch alle Vergleiche ungerecht. Die doch noch recht junge Band aus London spielt Postpunk mit wunderschön poppigen Melodien, ohne jemals Gefahr zu laufen, ihre Sperrigkeit zu verlieren.
Desperate Journalist spielen sich mit Songs wie „Hollow“, „Why are you so boring“ oder dem sehr tollen „Control“ durch eine wundervoll abwechslungsreiche Setlist, während das Publikum mitsingt, tanzt und dabei manchmal auch die Augen schließt. Die Londoner klingen live noch ein ganzes Stück härter als auf Tonträger. Steht ihnen jedenfalls sehr gut. Nach den Zugaben „Radiating“ (einer meiner wunderschön traurigen Lieblingssongs), „Resolution“ und „Organ“ ist dann leider nach gut einer Stunde Schluss mit einer wahnsinnig atmosphärischen Show. Ganz nebenbei auch sehr schön, dass die Band sich nur gefühlte 30 Sekunden bitten lässt, bis sie für die Zugaben zurückkommen. Ich bin unglaublich froh ein zweites Mal gekommen zu sein. Und am Merch-Stand bin ich wieder nicht vorbeigekommen. Wenn ich mich so umhöre, haben sich die Londoner jede Menge neue Fans erspielt. Nicht umsonst hagelt es derzeit fantastische Kritiken von allen Seiten, egal ob von Fachleuten oder Musikliebhabern. Das war heute jedenfalls ganz großes Kino. Danke, InDieWohnzimmer. Danke, Desperate Journalist. Und aller guter Dinge sind ja bekanntlich drei.