DIE HÖCHSTE EISENBAHN, 17.11.2016, Wagenhallen, Stuttgart
Mit der Sanierung würden auch die Toilettensprüche verschwinden, um so wichtiger sei es, sie sich noch einmal anzuschauen und einzuprägen, erzählt Sänger Francesco Wilking recht früh am Abend. Es ist das letzte Konzert in den Wagenhallen am Nordbahnhof. Das Merlin hat Wilkings Band „Die Höchste Eisenbahn“ eingeladen, es zu bestreiten. Gerade sah man Wilking noch unters Publikum gemischt, wo er den charmanten Auftritt von Naima Husseini im Vorprogramm auf seinem Smartphone aufnahm. Jetzt steht er mit seinen drei Mitstreitern auf der Bühne und zählt die drei Sprüche auf, derer er sich entsinnen kann: „Fuck Capitalism“, „Eat the rich“ und „Stuttgart bleibt rot“ – letzteres ein Hinweis auf den VfB Stuttgart, der den SC-Freiburg-Fan zu einem augenzwinkernden Seitenhieb verleitet, dem ihn spätestens am Ende eines fantastischen Abends auch der größte VfB-Anhänger verzeihen mag.
Der geschmackssichere Journalist Jochen Overbeck bringt den Charme und auch das Geheimnis der Höchsten Eisenbahn auf den Punkt, wenn er sich im Musikexpress wünscht, man möge doch eine Fernsehserie über sie drehen; in etwa „wie die Monkees, nur halt heute und in Deutschland“. Den Songwritern Francesco Wilking und Moritz Krämer gelingt nämlich mit ihren Kollegen Max Schröder (Schlagzeug) und Felix Weigt (Bass, Keyboards) etwas, was im Pop-Deutschland absoluten Seltenheitswert hat: sie erschaffen fernab von den AnnenMayKantereits und Bosses, den Poisel Philipps und Cluesos ein buntes Panorama unserer Zeit, in dem es von liebenswerten Typen und Kauzen, skurrilen Begebenheiten und Alltags-Grotesken nur so wimmelt und das ganz ohne gisbert’schen Kitsch auskommt.
Wilking und Krämer, beide aus Baden kommend in Berlin gelandet, sind selbst kauzige Erscheinungen. Mit seinen langen Haaren, dem Siebentagebart und der Brille sieht Francesco Wilking ein wenig wie The National-Sänger Matt Berninger aus. Seine Texte aber, sie fallen meist fröhlicher aus. Wie schon bei seiner stilbildenden früheren Band Tele gelingt es Wilking die Komik des Alltags einzufangen und selbst in der Ausweglosigkeit tragikomische Hoffnung zu erkennen. Für die düsteren Bilder ist Moritz Krämer zuständig. Doch die Grenzen verschwimmen. Instrumente werden laufend getauscht, alle Lieder sind Duette und keines ist schlecht. Die Leute wollen das hören und sie tun gut damit. Aufmerksam lauschen sie den berauschenden Versen und bewegen sie wogend zu den tanzbaren Klängen. Und die Songs sind ja auch unverschämt gut. Das war bereits mit der Debüt-EP „Unzufrieden“, von der heute kein Song gespielt wird, klar und manifestierte sich mit dem ersten Album „Schau in den Lauf Hase“. Dass nach zwei Jahren Pause das neue Album „Wer bringt mich jetzt zu den anderen“ sogar noch eine weitere Steigerung zuließ, ist ein Geschenk.
„Geh wenn du geh’n musst / Woanders ist nicht hier / Du verlässt mich nicht / Ich verletz mich mit dir“
singt Wilking in „Gierig“, dem zweiten Song des Abends, einem treibenden Stück Power Pop, und skizziert damit das Setting der meisten Lieder des Quartetts: „Unsere Songs handeln immer davon, dass zwei Personen irgendwo sind und die eine weg möchte. Also dass einer immer da ist, wo er gerade nicht sein will“, erklärt Krämer. „Louis ist im Laden und kauft Blumen / Louis kauft immer die falschen / Die kann er behalten“, singen beide gemeinsam und man möchte dem Protagonisten des Songs mit Krämer zurufen „Sei nicht so traurig!“. Als Zuhörer identifiziert man sich mit den Personen in den Liedern. Es ist das Geheimnis der Höchsten Eisenbahn, dass es ihr gelingt dem Publikum Figuren vorzusetzen, die man sofort vor sich sieht, die man zu kennen glaubt.
Nie wurde schöner und trauriger über Trennungen gesungen als in „Raus auf’s Land“ und „Mira“, man möchte weinen, aber man lächelt. Man lacht über das kafkaeske Hörspiel-Intro von Aliens, das sich zwischen Weigt und Wilking entspannt, man fühlt mit „Isi“ und „Robert“ und singt „Blume“ mit. Im Hintergrund leuchtet das „Glücksrad“ und Max Schröder spielt begeisternd Schlagzeug. Nach 14 Liedern ist Schluss, vier Zugaben folgen. „Was machst Du dann“ ist das Ende. Das Publikum singt lautstark mit, verharrt länger als üblich nach dem Ende im Saal und applaudiert in echter Glückseligkeit. Knapp zwei Stunden sind wie im Fluge vergangen. Wilking, Moritz Krämer, Felix Weigt und Max Schröder verneigen sich nach einem phänomenalen Konzert vor gut 500 Zuschauern. Die Höchste Eisenbahn beweist mit Spielfreude, großen Texten und Melodien, sowie einem entspannten Zitieren, einem Palimpsest starker Momente der Musikgeschichte, dass deutschsprachiger Pop 2016 kaum besser klingen kann. Nur die Wagenhallen zu besetzen, wie Felix Weigt vorher vorschlug, traut sich dann doch keiner.
Yeai. Wunderschöne Musik, nettes Konzert. Wobei ich währenddessen schon auch dachte, dass eben „nur“ die Platten live spielen. Immer noch, geile Musik und ich mag die Jungs, es war toll sie mal zu sehen, aber sie hören sich live genauso an wie auf der Platte. Das ist nichts schlechtes, aber ich wünschte mir einen Abend, der für sich selbst steht. An den mich die Songs danach dann immer erinnern.
So war es nett, aber nicht so, wie es vielleicht hätte sein können.
Lächeln, Fabian.