HOLLY GOLIGHTLY & BAND, HANNA FEARNS, 11.11.2016, Goldmark’s, Stuttgart
Vor vielen Jahren habe ich mir eine deftige Holly-Golightly-Überdosis geholt, möglicherweise lag es mit daran, dass ich nur eine Platte und ein paar MP3s besaß, die geraume Zeit ständig liefen. Das ist sehr lange her, aber Holly Golightly hat sich ja laut Internet selbst zwischen ihrem letzten Soloalbum und der aktuellen Scheibe „Slowtown Now!“ elf Jahre Zeit gelassen. Also bin ich relativ auf dem Stand, freue mich, sie mal live zu hören und mache mich auf den Weg ins von mir sehr geliebte Stuttgarter Goldmark’s, wo sonst könnte dieses Konzert auch stattfinden. Freude!
Vor Holly Golightly ist erstmal die in Köln lebende Deutsch-Britin Hanna Fearns dran. Ich bin mir sicher, dass ich sie (hier?) schon mal gehört habe, aber ich komme nicht drauf, wann und zu welcher Gelegenheit. Vielleicht irre ich mich ja auch. Etwa 80% ihrer Lieder, sie nennt ihren Stil „Sofa Country“, sind Beschwerden an irgendwelche verflossenen Männer, ich kann mir jedoch beim besten Willen nicht vorstellen, dass sich diese resolute Frau schlecht behandeln lässt. Vielleicht sind die Songs ja von Erlebnissen ihrer Freundinnen inspiriert, denen sie ihre Schulter zum Ausheulen leiht. Der Rest der Stücke handelt von sehnsuchtsvollen Erinnerungen oder Erwartungen an die Liebe und Körperlichkeit mit einem Mann, der mal der ihre war oder doch bitte ihrer werden soll. Beim ersten und meines Erachtens einzigen Song, der ein anderes Thema als enttäuschte oder erfüllte Liebe hat, vergisst sie erstmal den Text, beginnt nochmal, vergisst ihn wieder und schiebt das sehr charmant auf die Biere, die sie vor dem Autritt getrunken hat. Mit ihr würde ich ja gerne mal ein Bier trinken, sie ist eine sehr eindrucksvolle Frau und sie scheint auch sehr witzig zu sein. Beim dritten Anlauf klappt es, das Stück handelt von den Prophezeiungen einer alten ähm … Wie übersetze ich jetzt politisch korrekt Gypsy Woman? Am besten gar nicht! Wie auch immer, Hanna Fearns, die sich selbst mit Gitarre begleitet, gefällt mir ausgesprochen gut und den anderen im Publikum offensichtlich auch. Sie kommt zum Ende, bedankt sich und kündigt Holly Golightly an. Begeisterter Applaus und Zugaberufe begleiten sie von der Bühne.
Ich treibe mich in der Pause noch ein bisschen rum, was ein Fehler ist, denn als Holly Golightly mit ihrer Band die Bühne betritt, besteht kaum noch eine Chance, wieder den Platz in zweiter Reihe zu ergattern – es ist jetzt gestopft voll bis zum Ausgang hinter. Aber ich drängel mich zumindest in die fünfte Reihe und schaffe es auch, noch eine Freundin mitzuziehen. Vermutlich werden wir jetzt gerade ein bisschen gehasst, kann ich aber gut aushalten. Was ich jedoch kaum aushalte, ist die Wolke diverser Damendüfte süßer Art, in der ich jetzt stehe. Die sehr gepflegten Mädels vor mir hätte ich eher in der Diskothek Penthouse in Feuerbach erwartet. Ist ja toll, dass das Publikum so gemischt ist. Holly erzählt, dass sie gerade in Österreich unterwegs waren und sie sich in „Venice“ – die Band korrigiert sie sofort – es war natürlich in „Vienna“, die Stimme ruiniert hätte. Tatsächlich klingt sie manchmal ein bisschen angeschlagen, aber das passt eh. Und Holly passt unglaublich gut in diesen Club mit ihrer musikalischen Mischung aus Garagensound, Rock’n’Roll und Blues. Leider sehe ich das erste Stück nur durch ein Handydisplay und jetzt machen die vorher erwähnten Mädels auch noch Selfies mit Holly im Hintergrund. Uff! Bin ich bei Tokio Hotel? Aber entgegen aller Befürchtungen hören sie damit auch irgendwann wieder auf. Im Gegensatz zu ihnen ist Holly Golightly uneitel. Kein bisschen Schminke im Gesicht, die Haare aufgesteckt und lässiges Outfit, das überzeugt mich sofort. Die kann ich gut leiden, auch mit ihr würde ich gerne mal ein Bier trinken.
Eine Frau aus dem Publikum ruft „I love moustache“ oder so ähnlich und meint damit den jugendlichen Gitarristen, der mit Oldschool-Schnauz und Hawaiihemd ein bisschen so aussieht, als wäre er einem 70er-Erotikfilm entsprungen. Schnauzer fand ich schon als Kind abscheulich, seltsam, dass ich es heutzutage an manchen Typen ganz hinreißend finde. Dieser hier ist neben Holly jedenfalls derjenige, der die Blicke auf sich zieht. Der Bassist ist leider sehr wenig beleuchtet, man nimmt ihn kaum wahr. Holly bittet später noch darum, das Licht vor ihr runterzudrehen, weil sie Kopfweh bekommt und außerdem das Publikum sehen möchte. Mit dieser Aussage holt sie sich natürlich Jubel.
Obwohl sich die Songs oft doch sehr ähneln, wird es nicht langweilig. Diese Musik ist einfach schön, manchmal zum Weinen schön, wie mir meine Freundin zuraunt. Man kann sich einfach hingeben und es genießen. Da ist nichts schwierig und nichts anstrengend, es fließt einfach und das Publikum fließt mit. Allerdings wird ganz schön viel geplaudert, aber was ich so mitbekomme, müssen sich die Leute mitteilen, wie toll sie das Konzert finden. Solange sie nicht über grausige Zahnoperationen sprechen … Ist mir auch schon passiert. Mein Hit des Abends ist das Stück „Slowtown“ vom aktuellen Album und handelt von Hollys aktuellem Wohnort, wohin sie uns einlädt, wenn wir mal entkommen müssen und wo die Straße so lang wie heruntergekommen ist, zumindest übersetze ich „weary“ in diesem Zusammenhang so. Und natürlich hören wir heute auch Wohlbekanntes wie „Whereever You Were“ und „Your Love is Mine“. Drei Herren um die 50 beginnen jetzt auch, Selfies zu schießen, ein bisschen seltsam fühlt sich dieser Abend ob solcher Szenen für mich schon an, passt für mich eher zu einem Konzert in der Schleyerhalle. Toll aber, dass die Leute sehr bewegungsfreudig sind und Holly Golightly wirklich gebührend feiern.
Ich schätze, die Überdosis hab ich überwunden, in den nächsten Tagen werde ich wohl mal in einem Stuttgarter Plattenladen vorbeigehen, „Slowtown Now!“ erstehen und in die Lücke im Plattenregal stellen, in der früher mal eine Holly-Golightly-Scheibe stand.