BJÖRK, 05.11.2016, Harpa Eldborg, Reykjavík
Das Iceland Airwaves Festival, das jedes Jahr in Reykjavík stattfindet, ist ein beliebter Treff für Musikliebhaber aus der ganzen Welt. Auf diesem Blog wurde bereits mehrfach und ausführlich aus Island berichtet. Auch in diesem Jahr gab es wieder jede Menge isländische und internationale Neuentdeckungen zu machen, die Möglichkeit einige alte Helden und große Namen nochmal oder endlich einmal live zu erleben und sogar Stuttgarts Nr. 1 Noise-Postpunk-Indie-Band Die Nerven stand dieses Jahr im Line-Up und lieferte ein sehr gut besuchtes und gefeiertes Set ab. Doch über allem stand in diesem Jahr die Grande Dame der isländischen Popwelt, die Avantgarde-Elfe Björk.
Sie schien allgegenwärtig, durch die Vorfreude auf das bevorstehende Konzert aber auch durch die Plakate zu ihrer Multimedia-Virtual-Reality-Ausstellung „Björk Digital“, die direkt vor dem Festival im Harpa, dem großen und großartigen Konzert- und Veranstaltungsgebäude am Hafen, eröffnete. Wobei „Ausstellung“ es nicht ganz trifft. Diese Mischung aus Design, Musik und Technologie ist eher irgendwo zwischen Ausstellung, Filmvorführung und digitaler Kunstinstallation anzusiedeln. Es ist wie so oft im Schaffen von Björk nicht einfach greifbar und nicht eindeutig zuzuordnen.
Damit jeder Besucher das volle Erlebnis hat, wird man bei „Björk Digital“ in kleinen Gruppen mit zeitlichem Abstand durch die einzelnen Stationen geführt. Man startet in einem dunklen runden Raum. Oben links und rechts zwei längliche Bildschirme auf denen das Two-Screen-Video von „Black Lake“ läuft. Durch die komplett den Raum umrundenden Lautsprecher erhält man einen Surround-Effekt, als wäre man von der Musik vollkommen umgeben.
Ab der zweiten Station tritt das Visuelle mehr in den Vordergrund. Jeder Besucher nimmt auf einem drehbaren Hocker Platz, bekommt einen Kopfhörer und eine große VR-Brille und steht so vor Björk am Strand, die um einen herum tanzt und singt.
Mit jeder Station wird man tiefer hineingezogen. Man steht nun nicht mehr am Strand, man ist in Björk, sitzt in ihrem verzerrtem, singenden Mundraum.
Die letzten beiden Stationen haben keinen Hocker mehr, man steht. So kann man nicht mehr nur rundum schauen sondern sich auch ein paar Schritte in der virtuellen Welt bewegen. Eine Welt die von einem Björk-Avatar bewohnt wird, einer immer riesiger werdenden Digital-Göttin. Mit dieser kann man in der letzten Station sogar zaghaft interagieren, als man zwei Controller gereicht bekommt, die als Hände in der virtuellen Welt fungieren.
I’ll be brand new, brand new tomorrow
wird Björk später in ihrem Konzert singen. Neu war sie schon immer, und vielen anderen mindestens einen Tag voraus, manchmal auch viele Jahre. Die Grenze zwischen Künstler und Konsument wird bei „Björk Digital“ zwar nicht eingerissen, aber sie wird unschärfer, man hat als Betrachter das Gefühl Teil des Ganzen zu sein. Ein immersives, beeindruckendes Erlebnis, das von der ergreifenden Live-Performance dann aber nochmals um ein mehrfaches übertroffen wird.
Ergriffen ist Björk von den Liedern ihrer im letzten Jahr erschienenen Platte „Vulnicura“ selber auch noch immer. Ihren Auftritt beim Airwaves 2015 hat sie kurzfristig abgesagt. Die neuen Lieder sind ihr „zu heavy“ und sie ist emotional nicht stabil genug, diese zu singen. Das Album selber bezeichnet sie als eher klassische Singer-/Songwriter-Platte. Eine Art Tagebuch auf dem sie den Schmerz der Trennung von ihrem langjährigen Ehepartner Matthew Barney verarbeitet, der die heute 50-jährige wie ein Teenager-Mädchen getroffen hat. Noch heute scheint sie mit dieser Traurigkeit zu ringen, wenn nun auch auf der Bühne.
Our love was my womb, but our bond has broken. My shield is gone, my protection is taken.
Das Konzert verzichtet auf sämtliche Show-Effekte, „nur“ ein 30-köpfiges Streichorchester und davor Björk in einem — natürlich — extravaganten Gewand. Sie betritt die Bühne in einem roten aufgeplusterten runden Kleid mit stacheligen Kragen und einer Maske aus weisser Spitze. „Erdbeerige Spielkartenkönigin“ kommt in den Sinn, aber das wäre zu abfällig, denn es sah eigentlich gar nicht so lächerlich aus. Und wenn jemand außergewöhnlich Kostüme mit Stil und Würde tragen kann, dann ja wohl Björk!
Das Konzert beginnt mit „Stonemilker“, die fünf Lieder die danach folgen stammen ebenfalls alle von „Vulnicura“. Ohne elektronische Unterstützung, ohne Bass und ohne Beat, nur getragen und vorangetrieben von den Streichern, tritt die Dramatik der Lieder noch mehr in den Vordergrund. Björk singt sehr konzentriert, jede Silbe wird scheinbar extra betont, als wäge sie die Worte nochmal ab, bevor sie aus ihrem Mund kommen, als durchlebe sie den Schmerz noch einmal, der sie zum Schreiben dieser Lieder angetrieben hat. Und das Publikum durchlebt ihn mit ihr. Auf „Black Lake“, dem zentralen Leidens-Song des Albums, singt sie noch immer mit der gleichen Wut und Trauer wie auf der Platte. Während der Lieder schleicht sie auf der Bühne immer wieder von links nach rechts und schaut immer mal wieder direkt ins Publikum, aber außer dem gelegentlichen „Takk“ (Danke) findet keine Interaktion statt. Nach gut 50 Minuten ist erst einmal Pause.
Nach einer Viertelstunde kommt Björk in einem neuen Kostüm zurück. Ein lang-wallendes blaues Kleid und eine Kopfbedeckung irgendwo zwischen Brautschleier und Omas Trockenhaube (auch hier, das klingt aufgeschrieben despektierlicher als es in echt aussah — es ist schlicht schwer, sowas zu beschreiben, wenn man kein ausgebildeter Modeblogger ist). Das Set wird nun gemischter, der zweite Teil beginnt mit „Aurora“ vom 2001er-Album „Vespertine“. Bei „I’ve Seen It All“, ursprünglich ein Duett mit Thom Yorke für den Lars von Trier-Film „Dancer In The Dark“, merkt man deutlich den Unterschied zu den „Vulnicura“-Songs, die allesamt beim ersten Hören nicht so zugänglich sind. Das hier ist melodischer und leichter, hier kann man auch selber beim Zuhören mal durchatmen.
Die doch sehr unterschiedlichen Stücke aus den verschiedensten Schaffensphasen Björks werden durch die Streichorchester-Arrangements und ihre nicht alternd wollende Stimme zusammengehalten. Im zweiten Teil wirkt sie selber auch gelöster, fast so als ob sie erleichtert ist den ersten Teil heil rumgebracht zu haben. Sie gönnt sich ein Glas Champagner, das am Bühnenrand steht und an dem zwischen den Songs immer mal genippt wird. Dann ein weiterer, ein echter Hit. Bei den Anfangstakten von „Joga“ brandet zu Beginn des Songs schon Jubel im Publikum auf, das ansonsten sehr ruhig und konzentriert zuhört und immer erst nach dem wirklich letzten Ton eines Songs euphorisch applaudiert.
Unter den Musikern im Orchester sind auch vier Streicher, die bei der Vorstellung besonders hervorgehoben werden. Sie waren schon 1997 bei den Aufnahmen zu „Homogenic“ mit im Studio. Und mit zwei Songs von genau diesem Album geht das Konzert auch zu Ende: „Bachelorette“ und als Zugabe „Pluto“, vor dem sie das Publikum aufforderte, aufzustehen und mitzusingen „if you are feeling like it“, was jeder gerne tat. Zumindest das Aufstehen. Das mit dem Mitsingen war wahrscheinlich scherzhaft gemeint, denn das fällt bei einem so technoiden Song wie „Pluto“, der zudem hier ja in einer Streichorchester-Version daher kommt, dann doch etwas schwerer. Mehr als ein zaghaftes „Uhh uhh uhh uhh“ kann man da als Zuschauer nicht zu beitragen.
When we’re broken we are whole, and when we’re whole we’re broken.
Was macht man, wenn einem das Herz gebrochen wird? Die einen ertrinken den Kummer, die anderen brechen Beine. Björk hat ein Album geschrieben und bringt dieses mit solch dunkler Schönheit auf die Bühne, dass man danach als Zuschauer bewegt und glücklich zugleich ist und erstmal Zeit braucht um diese Eindrücke zu verarbeiten. Ein einfaches weiterspringen zum nächsten Gig, wie man es sonst bei einem solchen Festival macht, ist nicht möglich. Und wenn man in die Gesichter der anderen Besucher schaut, die nach und nach ins Foyer zurück kommen, geht das allen so.
Wunderbar, vielen Dank, dass ich nun zumindest durch Deinen Text doch dabei sein konnte. Wir waren sehr enttäuscht letztes Jahr, die nicht in der Harpa sehen zu können.
Björk-Auftritte sind Erlebnisse, die nicht wirklich unter dem Begriff „Konzert“ zu fassen sind, sondern die sich in einer übergeordneten Dimension abspielen. Ihr Auftritt in der Liederhalle am 11.09.2001 (!) war so ein Ereignis..