CHELSEA HOTEL – Ein musikalischer Abend mit Motiven aus Sam Shepards Cowboy Mouth, 25.10.2016, Kammertheater, Stuttgart

Chelsea Hotel Ein musikalischer Abend mit Motiven aus Sam Shepards Cowboy Mouth

Foto: Bettina Stöß

„Der Vorhang geht auf“ liest man bei Gig-Blog eher selten. Heute bin ich mit Fotograf X-tof bei einem musikalischen Abend mit Titel „Chelsea Hotel“ im Kammertheater des Stuttgarter Schauspiels zu Gast. Das Tolle daran ist, dass es noch weitere Vorstellungen geben wird und der Leser nicht wie sonst bedauern muss, was er verpasst hat. Fotografieren dürfen wir heute leider nicht.
Das Chelsea Hotel ist mir vor allem durch Leonard Cohens „Chelsea Hotel #2“ und Jeffrey Lewis‘ „Chelsea Hotel Oral Sex Song“ ein Begriff. Dank Begleitheft weiß ich nun, dass viele Künstler hier nicht nur mal für ein bis zwei Nächte abgestiegen sind, sondern an diesem Ort länger gelebt und gearbeitet haben. Eine Sitznachbarin leiht sich noch schnell die Setliste, die dem Heft beiliegt und drückt ihr Bedauern aus, dass Janis Joplin nicht dabei ist. Finde ich ja nicht so schlimm und ein bisschen kommt sie doch vor, im oben erwähnten Song „Chelsea Hotel #2“, der heute nicht fehlen wird. Natürlich möglich, dass es nur eine Legende ist, dass es sich bei der „Kopf gebenden“ Dame um Janis Joplin handelt.

Das Licht geht aus, nur ein Minischeinwerferstrahl leuchtet von hinten Richtung Bühne, der sich eben dorthin bewegt. Nun erkennt man einen Mann (Manuel Harder) mit Oldschool-Astronautenhelm, dem Minischeinwerfer und in Lucky-Luke-Unterwäsche – also so ein weißes Ganzkörperdings mit Poklappe -, der mit einem kurzen Text den Abend einleitet.
So, endlich: Der Vorhang geht auf! Wir finden uns nun in irgendeinem Zimmer des Chelsea Hotels wieder. Links zieht Hanna Plaß, die in einer braunen Lederkombination, Düsenfluggerätrucksack und Fliegerbrille am Flügel steht, sofort die Blicke auf sich. Sie spielt und singt sich langsam in den Titel „Wrap your Troubles in Dreams“ von Nico hinein. Rechts von ihr ist die ebenfalls schrullig kostümierte Band aufgestellt. Ich fühle mich, als wäre ich in einem Film von Jean-Pierre Jeunet oder Wes Anderson gelandet. Das gefällt mir schon mal total gut. Aber zurück zu den Musikern. Max Braun (Gitarre, Gesang), der mit Hanna Plaß die musikalische Leitung für den Abend hat, ist aus diversen Bands wohlbekannt, ebenso wie Johann Polzer (Schlagzeug, Percussion) und Joscha Glass (Kontrabass, E-Bass).

Hanna Plaß, die die Idee für dieses Stück geliefert und gemeinsam mit Max Braun die Songs für die Bühne adaptiert hat, steht als Ginger Redcliff immer wieder auch als Sängerin auf einer Bühne. Nicht verwunderlich also, dass sie Schauspiel und Gesang gerne mal verbindet. An ihrer Seite singen und spielen außer dem schon erwähnten Manuel Harder weitere Ensemble-Mitglieder des Schauspiel Stuttgart, so Marietta Meguid, Birgit Unterweger und Elmar Roloff. Letzterer ist heute fast mein Liebling, er rockt zwei Stooges-Nummern runter, dass es mich kaum auf dem Sitz hält, aber ich könnte wirklich schwer entscheiden, wer mich am meisten fasziniert. Birgit Unterweger ist eine echte Bühnensau. Im Hintergrund vollführt sie immer wieder höchst Akrobatisches auf schwindelerregenden Schuhen – die Körperbeherrschung möchte ich haben – und sie hat eine tolle und sehr kraftvolle Stimme. Für Gänsehaut sorgt Marietta Meguid mit dunklem, warmem Timbre, als sie nur von einer alten, kratzigen Schallplatte begleitet Antonin Dvoraks „Going home“ singt. Ich glaube, selbst bei Hanna Plaß feuchte Augen zu erkennen. Und Manuel Harder bietet im Hummer-Kostüm Jobriaths „Space Clown“ so energiegeladen dar, dass man niederknien könnte! Ob die Schauspieler heute jemand eindeutig darstellen sollen, erschließt sich mir nicht, wobei mich Birgit Unterweger an Patti Smith und Marietta Meguid an Jean-Michel Basquiat erinnert.
Eine richtige Handlung gibt es bei einem musikalischen Abend eher nicht. Dieser hier bietet dem Zuschauer kleine Einblicke in das Leben, das im Chelsea Hotel geführt wurde und was hier entstand und vielleicht auch kaputtging. Schauspieleinlagen und Auszüge aus Texten und Gedichten, die hier geschrieben oder inspiriert wurden, geleiten uns von Song zu Song.

Das Bühnenbild ist aufwändig gestaltet, es gibt viele Details wie eine Urne mit Aufschrift „Chopin“, eine Badewanne, in der gesoffen und gesungen wird, eine sich drehende Lampe, deren Schirm große Löcher hat, vor dem sich immer mal einer der Schauspieler zu sonnen scheint. Projektionen von Fotografien und kurzen Videos machen diesen Abend außerdem zu mehr als einem Konzert, ich nehme sie aber nur am Rande wahr, ich konzentriere mich schon stark auf die, die gerade am Musizieren sind.

Hanna Plaß ist meistens bei der Musik dabei, mal am Flügel, an einer kleinen Orgel, am Schellenring, aber auch eine alte Blechwanne aus Omas Waschküche dient ihr als Instrument. Und sie spielt mit vollem Körpereinsatz, zappelt rum, strahlt Johann Polzer an, er strahlt zurück, sie haben Spaß und ich habe Spaß. Max Braun habe ich auch noch nie so rockig spielen hören. Toll, wie diese alten Songs hier interpretiert werden. Nicos „Chelsea Girls“ wird im Wechsel dargeboten, hier kommt auch Max Braun mal solo dran, was mich besonders freut, für mich hat er eine der schönsten Männerstimmen überhaupt. Die Interpretation von „I wanna be well“ von den Ramones erinnert mich die Stimmung betreffend etwas an Connie Francis‘ „Schöner fremder Mann“, Televisions‘ „Venus“ ist kaum wiederzuerkennen, grandiose Version, spätestens jetzt möchte ich eine Aufnahme!

Mit Suicides „Dream Baby Dream“ geht dieser bombastische Abend zu Ende, Hanna Plaß und Elmar Roloff sind dabei zunächst alleine, aus dem Hintergrund singen Band und Schauspieler leise dazu. Der Applaus ist tosend. Johann Polzer, Max Braun, Hanna Plaß und Joscha Glass kehren nochmal zurück, stellen sich dicht vors Publikum und interpretieren unverstärkt Joni Mitchells „Case of you“, jetzt kämpfe ich endgültig mit den Tränen. Hanna Plaß singt mit allen Facetten ihrer Stimme – und das sind etwa 94 – und berührt nicht nur mich. Als der letzte Ton verklingt, haucht eine Frau im Publikum: „Wahnsinn!“

Setlist

Wrap your troubles in dreams – Nico
All tomorrows parties – The Velvet Underground
I sing the body electric/Rock ’n’Roll Nigger – Text: Walt Whitman, Musik: Patti Smith
Toujour Gai – Text: Joe Darion, Text: George Kleinsinger
Chelsea Girls – Nico
Dirt – The Stooges
Sad eyed Lady of the Lowlands – Bob Dylan
If you gotta go, go now – Bob Dylan
Going home – Text: Paul Robeson, Musik: Antonin Dvorak
Paris 1919 – John Cale
Space Clown – Jobriath
Chelsea Hotel #2 – Leonard Cohen
I wanna be your dog – The Stooges
I wanna be well – Ramones
Venus – Television
I can’t stand it – The Velvet Underground
Born to lose – Johnny Thunders
Dream Baby dream – Suicide

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