ORANGE BLOSSOM SPECIAL 20, Tag 2, 14.05.2016, Glitterhouse Garten, Beverungen
Zeltnacht überstanden, Kopf ignorieren und irgendwie aufstehen. Rembert hat es auch schon letztes Jahr mit seiner Musikauswahl geschafft, die Nachwirkungen des ersten Abends rasch zu vertreiben. Das klappt auch dieses Mal mit Lùisa, deren Stimme einen live wirklich wegbläst.
Beim ersten Reinhören ganz nett, aber dann auf der Bühne mit Band und Loopstation ist der Kater im Handumdrehen (nahezu) verschwunden. Das geht nicht nur mir so. Der Garten ist gegen 12 gut gefüllt und es herrscht andächtige Stille, was die junge Hamburgerin kaum glauben kann und schon ein bisschen gerührt zu sein scheint. Poppig und folkig kommen ihre Lieder daher. Am schönsten der Mittelteil, in dem die Band aussetzt und sich alles auf die Stimme konzentriert, die sich dank Looping auch noch verdrei- und vervierfacht. Vielleicht ist es schon zu spät, sie für ein Konzert im heimatlichen Wohnzimmer zu verpflichten, da die Kariere das Hauskonzertniveau bereits verlassen haben könnte, aber falls nicht, melde Dich, liebe Lùisa.
Kaffee und Backfisch sind anschließend ein sehr adäquates Frühstück. Ich bin ganz entzückt von den Brötchen in Muschelform. Der eher unspektakuläre Hardrock der Loranes tut dabei nicht weiter weh und findet bestimmt seine Liebhaber.
Das frühzeitige erste Highlight des Tages sind Josefin Öhrn & The Liberation, psychedelischer Spacerock aus Schweden getragen von absolut stoischen Beats. Der Sound erinnert an die Wooden Shijps, aber mit ungewöhnlicher, zarter, weiblicher Stimme und auf jeden Fall ein wenig leichter und luftiger. Das schreit ein bisschen nach Kiffen, verzaubert aber auch im hellen Tageslicht ohne Halluzinogene. Einen natürlichen Dramaeffekt erzeugt aufkommender Wind, der der Sängerin im sehr geschmackvollen schwarzen Outfit die langen braunen Haare ins Gesicht wirbelt. Wir sind entzückt.
Und endlich ist auch die fotografische Unterstützung aus der Heimat angekommen. Ganz kurz überlegen wir, ob wir Aidan Knight zugunsten eines zweiten Willkommensbieres auslassen sollen, aber der Kanadier hat was und zieht uns unweigerlich weiter nach vorne, obwohl sein eher ruhiger, etwas epischer Indiepop zunächst gar nicht so festivalgeeignet erscheint.
My Baby wird unter der Hand als der Geheimtipp gehandelt. „Das könnte echt super werden“ heißt es. Disko, Trance, Goa, sehr bluesig, ein geradezu zeremonischer Aufbau, ziemlich funky. Die Musik suggeriert elektronische Beats. Man sucht aber vergeblich nach dem dazu passenden Synthesizer. Handgemacht bekommt eine ganz neue Bedeutung. Entsprechend sitzt der Drummer auch in der Mitte der Bühne.
Sängerin Cato van Dijck lässt übrigens nicht nur Männerherzen höher schlagen. Auch die weibliche Zuhörerschaft ist hin und weg. Sie geht vollkommen in ihrer Musik auf, tanzt ekstatisch. Ihre Gitarre dient im Grunde nur der Rhythmusverstärkung. Daniel Johnston an der E-Gitarre, einer Cigarboxguitar und weiteren Zupfinstrumenten unklarer Zuordnung ist allerdings das eigentliche Wunderkind der Band. Er scheint einfach alles an seinen Instrumenten zu können. Ein Vergleich mit David Gilmour ist nicht unangebracht und sofern man es schafft, die Augen von Cato zu lassen, ist es ein reines Vergnügen ihm zuzuschauen. Ein ganz heißer Export aus den Niederlanden.
Für uns geht’s musikalisch mit den Nerven weiter. Tatsächlich eine Labelband, was man bei einem ersten Blick auf den Glitterhousekatalog zunächst nicht vermuten würde, aber in den Anfangsjahren war die Ausrichtung sehr viel stärker in eine Richtung gegangen, die dem phänomenalen Noiserock/Punk/Postpunk à la Die Nerven nahe kommt. Insofern könnte man die Verpflichtung sogar ein bisschen als ‚back to the roots‘ verstehen. Rembert Stiewe hatte sich zumindest beim ersten Liveerlebnis auf dem Eurosonic sofort in den typischen Sound verliebt. Er steht etwas hibbelig am Bühnenrand als die drei Stuttgarter diese betreten. Würde die Musik auch im lauschigen Park für das OBS-Publikum funktionieren? Auch wir sind ein wenig gespannt. Beim Soundcheck waren noch argwöhnische Stimmen zu vernehmen, ob der relativ braven Outfits. Gewohnt schnell und heftig wird losgelegt und gewohnt massiv packt es die allermeisten nach wenigen Takten. Zwischen den Jungs scheinen Funken zu sprühen und die geballte Energie wabert über den Garten.
Alte Hasen sind sich sicher, dass das OBS noch keinen solchen Moshpit erlebt hat und schon gar keine wild pogenden Herren (und auch Damen), die die 50 vermutlich schon ein Weilchen überschritten hatten. Rembert lächelt seelig und wir sind irre stolz ebenfalls aus Stuttgart zu kommen, auch wenn es dafür an diesem Tag kaum Gründe gibt und das vermutlich auch völlig „unpunkrock“ ist, aber wie sagte Gitarrist und Sänger Max Rieger kurz nach Betreten der Bühne: Wir (also Die Nerven) bleiben 1. Liga und recht hat er. Als er dann nach dem vermeintlich letzten Lied bereits abgegangen ist, entscheiden sich Kevin Kuhn, der Mann hinterm Schlagzeug mit den allerweltbesten Gesichtsausdrücken und Bassist Julian Knoth noch für eine kurze Hommage an Trio in Gedenken an den letzte Woche verstorbenen Trio-Schlagzeuger Peter Behrens in Form eines Medleys für das der eher schüchtern wirkende Julian ohne sein Instrument an den Bühnenrand kommt und kurze Sequenzen allseits bekannter Triosongs zum Besten gibt.
Nach so viel Glücksgefühlen und Power ist bei mir Luft ein bisschen raus, obwohl Get Well Soon eine exzellente Schlussband für den Glittergarten sind. Ich mag das neue etwas weniger verkünstelte Album ‚Love‘ ganz gern. Konstantin Gropper und seine Mitmusiker haben fantastische Laune. Gropper habe ich schon ganz lange nicht mehr so plauderig auf der Bühne erlebt und er sieht tatsächlich nach „rockendem Jugendpfarrer“ (Zitat der Bandkollegen) aus in seinem Kälteschutzaufzug. Richtig zündet das musikalische Programm heute aber leider nicht mehr. Die Wärmflasche ruft und der Wärmflaschenüberzug erinnert stark an Max Riegers Strickpullover.