CALEXICO, 29.04.2016, Im Wizemann, Stuttgart

CALEXICO, 29.04.2016, Im Wizemann, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Wir leben in Arizona. Aber was war hier früher? Es war einfach nur das Land der indianischen Ureinwohner. Es ist diese Vorstellung von existierenden Grenzen oder nicht existierenden Grenzen oder auch dem resultierenden Gegensatz dieser beiden Widersprüche, der uns umtreibt. Ich glaube, uns prägen Einflüsse aus anderen Quellen, z.B. unsere Nachbarn und die Mariachi-Bands oder der Latin Jazz aus New York oder Südamerika oder auch die Musik, die wir über die Jahre gemacht oder gehört haben – das alles entfaltet sich in unserer Idee, diese unterschiedlichen Elemente zu vereinigen.

Dieses Zitat von Joey Burns, zusammen mit John Convertino Gründer von Calexico, bringt es auf den Punkt – Denken, Ansatz und Basis der Musik von Calexico. Aber mit oder ohne diesem Hintergrundwissen vermittelt eben genau das, was im Mittelpunkt steht, all das auf so unmittelbare Art und Weise, wie es keine Erklärung und kein Zitat je schaffen werden: Die Musik!

An diesem Abend bin ich tatsächlich bei den Allerersten. Gefühlt der dritte Besucher, der die Halle im Wizemann betritt und könnte so süffisant soziologischen Überlegungen nachhängen über „Erste-Reihe-Stürmer“ und „Plätze-vorm-Mischpult-Besetzer“, aber wen interessiert das schon? Interessant ist die Bühne, die mit einer beachtlichen Fülle an Instrumenten bestückt ist: Über den Daumen gepeilt sicher 10 bis 12 verschiedene Gitarren, Schlagzeug, Keyboard plus die übliche elektronische Zusatzausstattung (für Frickeleien), Kontrabass, Vibraphon, Mariachi-Trompeten, Pedal-Steel-Gitarre, Akkordeon und sicherlich gibt es noch das eine oder andere, was ich noch nicht entdeckt habe.

CALEXICO, 29.04.2016, Im Wizemann, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Doch zunächst – die große Halle im Wizemann hat sich quasi heimlich komplett gefüllt, wie ich erstaunt feststelle – kommen zwei junge Männer auf die Bühne, die aussehen als hätten sie gerade erst das Twen-Alter erreicht: MAGNVS nennen sie sich, viel mehr lässt sich leider auch nicht in Erfahrung bringen über die Jungmusikanten (außer dass sie wohl aus dem deutschsprachigen Raum stammen). Der Gitarrist und Sänger wird von seinem Kollegen am Schlagzeug begleitet. Beide haben elektronisches Equipment um ihren Sound mit zusätzlichen Klängen und Elementen zu bereichern, was sympathischer Weise sehr zurückhaltend und sanft geschieht. Trotz eines sehr unaufmerksamen, geschwätzigen Publikums, schlecht ausgepegelter Mikros und eines etwas laschen Sounds, ist zu konstatieren, dass die beiden eine sehr erwachsene, ruhige, melancholische Musik mit Waits’scher Schwermütigkeit darbieten.

Nun wird umgebaut, was in Rekordzeit geschieht. Gekühlte Bierflaschen und Gläser mit Whiskey (oder ist das womöglich Tequila?) werden an den verschiedenen Musikerplätzen deponiert, die Dekoration des Bühnenhintergrunds sichtbar gemacht und man erkennt in der Mitte die stilisierten Sonne aus dem Cover-Artwork des aktuellen Albums „Edge of the Sun“. Eröffnet wird das Konzert – der Sound ist nun perfekt und glasklar – sehr ruhig mit den ineinander übergehenden Songs „Frontera/Trigger“ vom 1998er Album „The Black Light“, wie das auch auf der „Spiritoso“ Live-Platte von 2013 zu hören ist. Ansonsten handelt es sich aber um eine komplett andere Setlist am heutigen Abend. Auch wenn der Schwerpunkt auf den beiden jüngeren Alben dem aktuellen „Edge of the Sun“, 2015 und „Algiers“, 2012 liegt, wird die Auswahl mit Liedern, des zum Klassiker avancierten Albums „Feast of Wire“ von 2003 und vom „The Black Light“ Album aus dem Jahr 1998 angereichert und, was die Fans besonders freut, es sind auch sozusagen Schmankerl untergemischt worden, wie das großartige „All Systems Red“ (Album „Garden Ruin“ von 2006) oder „Corona“ (EP „Convict Pools“ von 2004).

CALEXICO, 29.04.2016, Im Wizemann, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Die kongenialen Burns (Gesang und Gitarre) und Convertino (Schlagzeug), sozusagen Zöglinge des ebenfalls kongenialen Masterminds Howe Gelb, waren früher Mitglieder seiner Band Giant Sand und gründeten 1996 Calexico. Sie sind sehr umtriebig, erstellen auch Soundtracks zu Filmen (z.B. für „The Guard“), arbeiten immer wieder mit den verschiedensten Künstlern zusammen und scharen ihrerseits wunderbare Musiker um sich, um ihre Musik auch live darzubieten. In der aktuellen Besetzung sind das:

  • Jairo Zavala: Gitarre, Lap-Steel-Gitrarre, Gesang
  • Jacob Valenzuela: Trompete, Vibraphon, Keyboard, Gesang
  • Martin Wenk: Trompete, Vibraphon, Gitrarre, Akkordeon, Flügelhorn, Background-Gesang
  • Scott Colbert: Kontrabass, E-Bass
  • Sergio Mendoza: Keyboard, Gitarre

Nach dem Opener werden wir auf deutsch begrüßt: „Guten Abend, wie geht’s? Es ist Freitag heute, richtig? Perfekt!“ Das zunächst etwas gediegen-steif wirkende Publikum lässt sich von der schönen, umaufwändigen und etwas schummrigen Stimmung auf der Bühne, bei der die Sonne in immer anderen Lichtstimmungen erstrahlt und den unterschiedlichen Stimmungen der Calexico Songs nach und nach in den Bann der Musik ziehen. Und Joey Burns schafft es mit einer schönen Geschichte das Stuttgarter Publikum sozusagen um den kleinen Finger zu wickeln: „You know, a part of my family comes actually from Sillenbuch, I just found out. I was there today with a friend.“ Gejohle und „Sillenbuch“ Rufe! Und Burns kommt zu dem Schluss „That means, that we all related to each other“ und musikalisch somit zum aktuellen „Bullets & Rocks“.

Die Atmosphäre, die der Calexico-Kosmos in verschiedenen Stimmungslagen von melancholisch-verträumt bis ausgelassen-lebensfroh evoziert, lässt sich kaum fassen und zutreffend beschreiben, aber einen Hinweis gibt Joey Burns in einem Interview selbst: „In Arizona muss man keine Drogen nehmen um high zu sein. Die psychedelische Aura ist in der Luft, in der Sonne und am Himmel. Mir persönlich reicht es eigentlich Tequila und guten mexikanischen Wein zu trinken.“ Und so macht das mittlerweile angefixte Publikum alle Stimmungsschwankungen willig und immer wilder werdend mit.

CALEXICO, 29.04.2016, Im Wizemann, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Eine Zäsur bildet das schon angesprochene und großartige „All Systems Red“, das tatsächlich von einem sanften Beginn in ein psychedelisches Inferno mündet und einen zunächst mit offenem Mund dastehen lässt. Doch umgehend sieht man sich umgeben von grinsend vor sich hintänzelnden Menschen, als das dramatische „Black Heart“, das rhythmische „Moon never rises“ und das schmissige „Corona“ folgen. Schließlich sind wir tatsächlich schon beim Good-bye und „Puerto“ angelangt, und als alle sieben Musiker wie auf Kommando von der Bühne verschwinden, ist klar, dass das nur ein kurzer Abschied sein kann. Und das Publikum ist nun gar nicht mehr steif, sondern grölt und jubelt regelrecht ekstatisch die Zugaben herbei.

Selbstverständlich geht es nochmals weiter und Burns bedankt sich zunächst bei allen anderen Beteiligten, die auch zum Gelingen eines so tollen Abend beitragen: Licht, Merch, Mischpult, Veranstalter etc. pp. Und natürlich bei den Musikern, bei allen auf der Bühne und bei allen mit denen er und John Convertino schon arbeiten durften und ohne die aus so einer kleinen Idee nicht so eine große Sache hätten werden können, wie er sagt. Und auch das deutsche Label „Hausmusik“ in München, bei dem 1997 kurioser Weise das erste Calexico Album „Spoke“ erschien, bleibt nicht unerwähnt. Und Joey Burns stellt die Frage, warum Calexico wohl so populär in Europa sind und beantwortet sie gleich selbst: „I think the answer is, you guys have good vibes.“ Und folgerichtig kommt nun „Wash“ vom allerersten Album, gespielt nur von den beiden Bandgründern und auf das noch zweimal wilde Rhythmen folgen und mittlerweile fühlen wir uns dann doch schon so ein bisschen nach Arizona.

CALEXICO, 29.04.2016, Im Wizemann, Stuttgart

Foto: Michael Haußmann

Die Band verabschiedet sich, verneigt sich vor dem nun tosenden Stuttgarter Publikum, das aber nicht locker lässt, als Calexico zum zweiten Mal verschwunden sind. Und tatsächlich kommt die gesamte Band nochmals auf die Bühne und Burns, der ernsthaft etwas gerührt scheint, fragt nur „Why?“ und die eindeutige Antwort kommt lautstark: „Sill-en-buch, Sill-en-buch, Sill-en-buch…“ Grinsend geht Burns darauf ein: „You know, when I was at Sillebuch today, my friend said, that there is a kind of saying here – and now I know what he means with: ein bisschen verrückt ist völlig normal.“ Und ganz in diesem Geiste wird nun noch zu vier weiteren Songs gefeiert, darunter auch „Two silver trees“ von 2008 (Album „Carried to Dust“). Calexico schließen definitiv mit dem letzten Song des aktuellen Albums „Follow the River“, einer schönen, traurigen Ballade und ich muss an einen weiteren Satz von Burns denken: „Aber ganz am Ende geht es doch nur darum, dass dein Herz am richtigen Platz sitzt…“

MAGNVS

Calexico

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