TURBOSTAAT, 29.03.2016, Universum, Stuttgart
Ich bin schweißgebadet, die Haare kleben am Kopf, einige Stellen an meinem Körper schmerzen und werden sich ziemlich sicher noch zu blauen Flecken entwickeln, mein Hals fühlt sich rau und ausgetrocknet an – nein, das ist keine besondere Gattung eines Panikzustandes oder ein erneut heraufziehender Virusinfekt. Das Gefühl zu diesem Zustand ist am passendsten mit Adjektiven wie ‚erfüllt‘, ‚zufrieden‘ oder auch wenn es sich wohl etwas kitschig anhören mag ‚beseelt‘ beschrieben. Wenn ich den Duden mal zu Rate ziehen darf, ist letzteres wohl sehr treffend: “von einem Gefühl innerlich erfüllt sein; in Gefühlen schwelgend, gefühlvoll, sentimental“. Und ja richtig – das ist der Zustand unmittelbar nach Ende eines wohl mehr als gelungenen Konzerts von Turbostaat im Universum in Stuttgart. Für mich bereits unter den Top Five für 2016.
Diese unmittelbare, distanzlose Nähe, wie sie durchaus typisch ist bei Punk- und Hardcore-Konzerten, stellen Turbostaat mühelos her und zwar von der allerersten bis zur letzten Note der definitiv letzten Zugabe. Im Bereich vor der Bühne (wo auch ich mich aufhalte) ist das sicher am intensivsten zu spüren und wird da ja auch so gewollt und gleicht gegen Ende des Konzerts eher einem tranceähnlichen Transzendenzstadium. Doch scheint jeder im sehr gut gefüllten Saal des Universum zumindest etwas wie elektrifiziert zu sein ob der gemachten Konzerterfahrung. Aber auch die Band – namentlich Marten Ebsen (Gitarre), Peter Carstens (Schlagzeug), Tobert Knopp (Bass), Rollo Santos (Gitarre) und Jan Windmeier (Gesang) – scheint sich in einem wohlig erschöpften Zustand zu befinden und man kann ihnen ansehen, dass auch sie von der Stuttgarter Begeisterung im positivsten Sinne überrascht sind.
Schon während der Umbaupause ist steigende Nervosität zu spüren, ebenso die angestiegenen Körpertemperaturen; angespannt rückt man noch enger zusammen, nach vorn, möchte ganz nah dran sein und tatsächlich springt mit dem Opener „Ruperts Gruen“ vom neuen „Abalonia“ Album sofort der Funke über und verursacht durch umgehend nachgelegte glühende Scheite „Haubentaucherwelpen“ (Album „Vormann Leiss“, 2007), „Tut es doch weh“ (Album „Stadt der Angst“, 2013) bis zu „Arschgesichter“ (wieder „Abalonia“) bereits einen Flächenbrand, der so schnell nicht mehr zu löschen ist.
Und sie stochern blöd im Gestern
Als wenn da noch etwas wäre
Außer Leere und jener Schmerz
Das ist alles
Ich bin so müde vom Schlafen
Und glücklich vom Heulen
Und Galle wütet weiter in meinem Bauch
Vielleicht gibt es ja zur Bratwurst
Noch Backpfeifensalat
Ihr Arschgeigen!
Turbostaat aus Husum haben es in ihren bereits 17 Jahren geschafft, sich eine gar nicht so kleine, feine und treue wie absolut textsichere Fangemeinde zu erspielen. Und sie treten sympathischerweise nach wie vor in kleineren Clubs und Sälen auf, was eine Freude ist. Denn hier gibt es kein Absperrgitter mit Aufpassern, die einem auch noch die Sicht versperren würden im Universum und es darf nach Herzenslus gestagedived und crowdgesurft werden. Und so scheinen sich auch Turbostaat am wohlsten zu fühlen, wenn um Jan Windmeiers Mikrofon, das er am Bühnenrand in die Menge hält, gefühlt 13 aufgerissene Münder mitgrölender Fans hängen. Doch nein, der Eindruck könnte entstehen, es handle sich um hartgesottene Szenejünger und -jüngerinnen, dem ist mit mitnichten so – vielmehr schaffen es Turbostaat wohl wie kaum eine andere deutsche Band ein sehr heterogenes Publikum anzuziehen. Hier fühlen sich Alt-Punks und Indie-Fans ebenso musikalisch verortet wie pubertierende Mädchen.
Dabei haben sich Turbostaat gerade zu so etwas wie einer Speerspitze einer neuen, ja Bewegung gemausert. Man nennt sie gemeinsam mit Bands wie Pascow, Fjørt, Love A, Messer, Adam Angst und Kmpfsprt, spricht vom neuen deutschen Punk. Klingt das nicht nach zwar sehr rebellischer, aber auch dilettantischer und etwas abgehangener Musik aus den 80ern? Oder ist das alles ganz anders, ist das überhaupt Punk und wenn ja, warum? Fragen über Fragen. Aber in der Tat scheint sich da etwas getan zu haben auch wenn diese Welle durchaus als diffus zu bezeichnen ist. Die Texte genauso wie Attitüden changieren hier von hochsensibel, intellektuell, gesellschaftskritisch bis Dosenbier, Dilettantismus, Rotzigkeit und dürfen gleichberechtigt auf einer Ebene existieren und auch die Musik von Bands dieser Welle ließe sich bei genauer Betrachtung auch einigen anderen Subgenres zuordnen und dennoch ist alles Punk. Dorfpunk könnte man sagen, denn die meisten der Bands stammen vom Lande und entspringen einer klassischen Punk-DIY-Einstellung nach dem Motto „wenn nichts los ist, muss du eben selbst was los machen“ und dazu steht man auch, wie beispielsweise Pascow, die mit dem Klischee spielen: „Das ist Gimbweiler, nicht L.A.“ (in Anspielung auf die legendäre Hardcore Compilation „This Is Boston, Not L.A.“ aus dem 1982).
Doch bleiben wir beim Konzert und bei Turbostaat. Alle sechs Alben stehen mit Anteilen auf der Setlist und der Spannungsbogen ist sehr gelungen. Es scheint nur Höhepunkte zu geben; einer davon ist sicherlich „Insel“ (Album „Vormann Leiss“), bei dem der wortkarge Windmeier nur lapidar anmerkt „ihr seid dran“, bevor alle gemeinsam in den „Husum verdammt“-Chor einstimmen. Und es gibt nach ca. einer guten Stunde ein offizielles Ende mit dem zum Klassiker avancierten „Harm Rochel“, zu dem Fans seit nunmehr neun Jahren versuchen der Aufforderung nachzukommen:
Leb doch mehr wie deine Mutter, leb bloß nicht wie ich!
Und mit dem Titelsong „Abalonia“ des neuen Albums:
Sie hat gesagt, dass sie brennen wird
Doch niemand wollte es hören
Man hat gehofft, dass sie lügen kann
Und schwieg, als wäre nichts passiert
Und sie ging den selben Weg
Nur weiter, nur weiter
Vielleicht trifft man sie in Abalonia
Und sie ging den selben Weg
Nur weiter, nur weiter
Vielleicht trifft man sie in Abalonia
Mit dem sechsten Album „Abalonia“, einer Art Konzeptalbum, schaffen Turbostaat eine erdachte Welt, in der sie in ihren nach wie vor teilweise kryptisch-poetischen Texten eine Meinungsfreiheit pflegen, die andernorts selten so zu finden sein wird und schaffen es somit, zum einen sich selbst durchaus treu, aber dabei nicht stehen zu bleiben und weiter über den Tellerrand zu blicken – quasi mit einer leicht veränderten Perspektive oder wie es Bassist Tobert Krupp formulierte „Wir haben die absurdesten Sachen als akzeptabel durchgewunken“.
Und auch musikalisch fand hier eine deutliche Entwicklung und Veränderung statt und die Mühen und das Offensein hierfür haben sich definitiv gelohnt und werden auch honoriert. Die Mannen von Turbostaat sind mutige und ehrbare Kämpfer – zunächst einmal in Sachen Musik, aber genauso in Sachen kritischer und politischer Anmerkungen, freier Meinungsäußerung und, ja genau Punk! Bei Turbostaat bekommt der Begriff Authentizität eine viel intensivere, spürbare Bedeutung. Und nicht dass hier ein falscher Eindruck entsteht; es sind keine verkopften Diven, die sich mit der elektrischen Gitarre selbst verwirklichen müssten. Dafür sind sie wohl allesamt viel zu bodenständig, sympathisch und offen.
Die Show steht nicht im Vordergrund bei den Auftritten von Turbostaat. Aber es wird mit einfachen Mitteln – vier aus der Tiefe der Bühne ins Publikum gerichtete Strahlerständer sowie ein, zwei Stehlampen – für die richtigen Stimmungen und eine eher schummrig-heimelige Grundatmosphäre gesorgt, in der sich die Musiker auskennen, wie in ihrer Westentasche und sich sichtlich zuhause fühlen.
Sogar zwei Mal werden die Fans mit Zugaben belohnt. Und bei der knisternden Begeisterung und schweißgetrieben-brodelnden Atmosphäre haben sie auch gar keine andere Wahl. Mit „Fraukes Ende“, „Drei Ecken – ein Elvers“, „Monstermutter“ und „Schwan“ bekommen die Fans auch noch einige Lieder aus früheren Schaffensphasen geboten und saugen alles auf wie ein Schwamm, scheinen nicht genug bekommen zu können. Doch dann ist auch das Pensum gut erfüllt für Band und Publikum und man beklatscht sich gegenseitig für’s Kommen und Teilhaben. Turbostaat bekommen zum dritten Mal einen wahrlich wohlverdienten, langanhaltenden ehrlichen und respektzollenden Applaus von schweißtriefenden Menschen und dabei können sie in die selig grinsenden und lichterloh glühenden Gesichter sehen.
Auch die Vorband Kafvka (aus Berlin) sei der Vollständigkeit halber erwähnt, die sich für eine halbe Stunde an ihrem 90er-Retro Konzept abarbeitet. Irgendwo habe ich über die Band gelesen „Eine Mischung aus Rage Against The Machine und Limp Bizkit, aber auf deutsch“. Das halte ich doch für etwas gewagt, denn es ist eher eine etwas schwächlich geratene Kopie, eher „Rage Against The Machine für Arme“, da die Songs doch etwas zu langweilig geraten sind. Darüber kann auch die groovende Beat-Wucht mitsamt dem Rap nicht hinwegtäuschen. Und bei dem eher partytauglichen Sound („Ich bin so’n geiler Punk“), wirken womöglich ernstgemeinte Aussagen („Lampedusa“) doch etwas sehr gewollt. Und Frontmann und Sprechsänger Jonas muss man leider hier beipflichten: „Ja Vorband ist immer so ne Sache, deswegen ist ja man nicht gekommen“.
Wow, ganz tolle Bilder! Weiter so!