NIGHT OF THE PROMS, 15.12.2015, Schleyerhalle, Stuttgart
Als Journalist hat man es nicht leicht. Da ist es egal, ob man im Feuilleton sitzt, über Sportveranstaltungen berichtet oder Gig-Blogger ist. Kritisiert man Dinge, weist auf Probleme hin oder greift harsch an, lässt eine erboste Reaktion selten auf sich warten. Jaja, man mache es sich zu leicht. Überhaupt wer ist man überhaupt, dass man sich das anmaßen kann: „Diese Geschichte immer mit dem Tiefpunkt und nochmal ’nen Tiefpunkt und dann gibt’s nochmal einen niedrigeren Tiefpunkt,“ klagte der damalige Teamchef der deutschen Nationalmannschaft im September 2003 nach einem tristen torlosen Unentschieden in Island. Rudi Völler wütete und schimpfte wie es nur einer kann. Denn „immer diese Geschichte: alles in den Dreck ziehen, alles runterzuziehen, das ist das allerletzte“.
In eine ähnliche Kerbe haut auch der Hut tragende Hamburger Johannes Oerding im Streifen-T-Shirt, bekannt aus Funk und Fernsehen als Schlagersänger und Mann an der Seite Ina Müllers. Das gesetzte Publikum in der Schleyerhalle reagiert auf Oerdings Geschichte von einem Verriss seines subjektiv als brillant empfundenen Konzerts in Bayern vor einigen Jahren regelrecht enthusiastisch. Als er dann im anschließenden Song „Traurig aber wahr“ über diesen „Zeitungsredakteur, der selber gern Musiker wär’“ und „früher mal ’ne Band“ hatte, „die außer ihm sonst niemand kennt“, räsoniert, kommt das blendend an. Ja, man hat es als Schreiberling nicht leicht, denke ich mir an meinem Pult auf der Pressetribüne. Es ist ein Konzert der Nokia bzw. Aida Night of the Proms und die 300. Show der Reihe in Deutschland, wie der gut gelaunte Moderator nicht müde zu berichten wird.
Die Night of the Proms haben sich zum Ziel gesetzt Pop und Klassik zu verbinden. Personell besteht das Programm dann aus angestaubten Pop-Legenden, gefallen Stars und „Shootingstars“, wie erwähnter Oerding vorgestellt wird, die mit einem belgischen Orchester namens Il Novecento aufgepeppte Versionen ihrer Hits performen.
Ein Ehepaar rätselt in der langen Schlange vor dem Einlass, welche Künstler wohl alles dabei sein würden. Anders als das Gespräch nahelegt, ist das Programm aber alles andere als ein Geheimnis: Dieses Jahr besteht das Line-Up neben Johannes Oerding aus der norwegischen Sängerin Maria Mena, dem belgischen Mädchenchor Scala & Kolacy Brothers, dem puerto-ricanischen Opernsänger, der lieber Pop machen würde, Fernando Varela, OMD und dem unvermeidlichen John Miles, der gefühlt schon immer dabei war. Als Höhepunkt sind die Beach Boys eingeplant. Dahinter verbirgt sich natürlich keineswegs eine adäquate Besetzung wie bei der 50th Anniversary Tour vor zwei Jahren. Namensrechte-Inhaber Mike Love und Bruce Johnston wissen natürlich trotzdem, dass den meisten Leuten manches wichtiger ist als eine Besetzung mit Brian Wilson und Al Jardine: nämlich Fun, Fun, Fun.
Dennoch sind wir wegen der Beach Boys hier – und aus einer gewissen Neugierde. Wie würde das Pop meets Classic Konzept aufgehen, ist es wirklich so peinlich, wie es gerne befürchtet wird, oder doch interessant? Die Antwort beinhaltet beide Aspekte: Es ist interessant; aber vor allem ist es peinlich.
Das liegt nicht an Maria Mena, die den Abend eröffnet. Mena ist ausgesprochen hübsch, wie auch der Moderator mit klischeebeladenen Floskeln bemerkt, ihre Songs dagegen austauschbar, obschon keineswegs peinlich. „The Hanging Tree“ ist ein esoterisches Stück Bombast-Pop für die Formatradios. Mena beginnt a-cappella, das Orchester setzt ein, dann der Mädchenchor Scala. Ein Crescendo jagt das nächste; effekthascherisch und wirkungsvoll. „Wow, war das ein Auftakt“, ruft der Moderator! Das Publikum schenkt stehende Ovationen und tanzt direkt danach ausgelassen den „Blumenwalzer“. Auf Kommando geschunkelt wird auch, bevor Mena mit ihrem Hit „All this Time“ zurückkehrt.
Fernando Varela wird als einer der kommenden Klassik-Stars eingeführt. Überzeugend gerät „Nessun Dorma“ aber keineswegs. One-Hit-Wonder John Miles singt in der ersten Hälfte Miley Cyrus „Wrecking Ball“ und nach der Pause seinen Hit. Der Gesang klingt ausgezeichnet, muss man sagen. Das weckt einen leisen Verdacht, der sich beim Auftritt der Beach Boys erhärten wird. Dazu später mehr.
OMDs Andy McCluskey und Paul Humphreys spielen ein Medley aus einigen ihrer Gassenhauer aus den 80ern, klatschen, tänzeln und springen über die Bühne. Im Hintergrund sieht man das Orchester spielen und den an Andre Rieu erinnernden Dirigenten leidenschaftlich arbeiten. Nur man hört davon nichts. Hinter allem liegt ein dichter Electro-Ballermann-Beat seit dem ersten Auftritt der Mädchenchors. Das klingt dann eher nach David Guetta als nach Pop meets Classic. Gleichwohl: Den Leuten gefällt’s. Ebenso wie der „Partymix“, der Großraumdiscoklänge in die Schleyerhalle führt und den perfekten Soundtrack für all diejenigen liefert, die ihre Betriebsweihnachtsfeier bei der Night of the Proms feiern. Das passt dann auch zum Pathos von Oerdings „Heimat“ und Andreas Bouranis „Ein Hoch auf uns“. Oerdings Lied wird ebenso gefeiert, wie die obligatorischen, austauschbaren Lobeshymnen auf ein lokales Bier. Zweites wird von Scala & Kolacny Brothers dargeboten und man kann beobachten, wie bedeutungsschwer Tränen der Rührung aus Augen gewischt werden. Die Erinnerung an die glorreiche WM 2014 scheint manchem doch sehr nahe zu gehen.
Als echte Legenden werden sie dann angekündigt, die Beach Boys. Das ist ja auch ganz richtig. Mike Love, der in letzter Zeit wegen seiner Freundschaft mit Donald Trump immer wieder kritisch beäugt wurde, war schon immer geschäftstüchtiger als sein genuiner Cousin Brian Wilson. Dass Love zusammen mit Bruce Johnston jetzt alles daran zu setzen scheint, das große Erbe der Beach Boys zu demontieren, ist bedauerlich. Im Paisley-Hemd und rotem Schal macht der 74-jährige inzwischen bärtige Mike Love optisch zwar noch eine gute Figur, doch ist der Rahmen der Musik nicht würdig. Da gibt es eine Tanzeinlage mit Johnston (beide mit Beach-Boys-Basecaps), Love winkt mit seinem goldenen iPhone, zeigt ins Publikum, deutet auf imaginäre Punkte und macht Wellenbewegungen mit seinen Händen. Die Versionen von zeitlosen Hits sind dabei wahrlich opulent. Es ist die Klasse von gefälligen Standards wie „Do it Again“, „Help me, Rhonda“ und „I Get Around“ oder „Sloop John B“ und „Wouldn’t it be nice“ von „Pet Sounds“, die ein wenig ihrer ursprünglichen Würde wahren können. Dass wiederum der Gesang so klinisch genau ist, sich dabei mitunter Loves Lippen scheinbar nicht synchron bewegen, nährt den bereits bei Miles aufgekommenen Verdacht weiter. Das ist traurig und tut mir weh.
Als am Ende alle gemeinsam für „Good Vibrations“ auf die Bühne kommen, wird das ganze Dilemma offenbar. Oerding singt eine Zeile, Maria Mena auch, ebenso wie Fernando Varela. Das Publikum ist aus dem Häuschen und scheint nur noch „Kokomo“ herbeizuflehen. Das bleibt uns glücklicherweise erspart. Das Konzert ist vorbei: „Well I feel so broke up, I want to go home“.