KADAVAR, THE SHRINE, HORISONT, 27.11.2015, Im Wizemann, Stuttgart
Aufgekratzt bist Du, wenn der Puls bis in den Hals schlägt und die Augen leuchten. Aufgekratzt bist Du, wenn der Atem schneller geht und Dich Dein Gefühl beschwipst. Aufgekratzt bist Du, wenn Du zappelig wirst und Dich Euphorie erfüllt. Aufgekratzt bist Du, wenn Dir Deine Ohren rauschen und der Moment Dich über alles hinwegträgt.
Kennst Du das?
Für kurze Zeit ist mein Puls noch ganz ruhig, als ich mit für Horisont ganz nach vorne stelle. Die Schweden habe ich schon ein paar Mal gesehen – zuletzt auf den „Heavy Days in Doomtown“ (aka. Kopenhagen, DK). Also lehne ich mich erst einmal an einen Pfeiler und packe mein Blöckchen aus. Doch schnell wird klar, dass das keine Haltung für die Dauer ist – und der Herzschlag-Level auch nicht. Die Schweden haben ein bisschen ihren Stil gewandelt. Was vorher sehr hard-rockig war, hat jetzt entschieden mehr schräge, ungewöhnliche Psychedelic-Elemente – vielleicht in der Art von Big Elf. Ihren Antritt haben sie dabei allerdings nicht verloren, und so bringen sie auch schnell das Blut in Wallung: Da kommt ein Up-Tempo-Stück nach dem anderen, gefüllt mit vielen Breaks, mit riffigen Passagen, mit knackigem Bass und geschickt eingestreuten Leads, mit originellen Fills vom Schlagzeuger oder quäkenden Keyboard-Melodien. Alex’ Stimme ist hoch und melodiös. Mitsingbar. Und reizt zum Mitsingen, was einige auch tun.
Schon nach wenigen Stücken kann man den Glanz in den Augen der Zuschauer sehen. „Geil“, schreit einer sogar immer wieder. Und das ist ja auch richtig: Besser kann man das jetzt auch nicht zusammenfassen. Eigentlich müsste man sagen: Geiler. Denn die Band ist über die letzten Jahre immer besser geworden. Das angeschlagene hohe Tempo wird nur ein Mal kurz vor Schluss variiert, als die Band mit „Night Stalker“ doch noch eine bluesige Down-Tempo-Nummer spielt – vielleicht damit man nicht allzu sehr in die Umbaupause abstürzt. Wer weiß. Jedenfalls lässt einen das Set sehr gut gelaunt zurück und hat für The Shrine angestachelt.
Zu Atem kommen lassen uns die Amerikaner dann allerdings ohnehin nicht. Sie geben gleich Vollgas. Metallisch klingt das und sehr abwechslungsreich. The Shrine sind knackig, eigenwillig-sperrig und dabei doch schlüssig und einnehmend. Joshs Lead-Vocals sind gepresst und wenig melodiös, mehr wie tonal gesprochen. Vor der Musik werden wir hergetrieben wie auf einem Peyote-Trip. So jagen wir wie angestochen den ruhigen Sonnenstrand von Venice Beach, CA, entlang, wo The Shrine ihren Ausgang nahm. Oder vielleicht haben die das getan, und die Sonne hat ihnen dabei ein wenig den Kopf verbrannt: Denn, was wir hören, ist irgendwie Prog Rock und Surf Punk in einem. So ein bisschen Widerspruch in sich.
Aber das Gefühl stimmt: Es ist warm und aufpeitschend und berauschend. Daran ändert auch der seltsame Umstand nichts, dass der Sound so klar und durchscheinend ist, dass er etwas zu unterkühlt für diese Art von Musik zu sein scheint: Bis zum FOH grooven die Leute mit. Nur dahinter stehen noch ein paar Unwillige und ein paar Skeptiker. Alle anderen haben großen Spaß. Offensichtlich ist The Shrine eine Band, die man sich merken muss. Anarchisch, spritzig, originell, nie um eine verwirrende Ansage verlegen („do you want a piece of my brain?“) und nach einer bombigen Show noch in der Lage zu einem jamigen Grande Finale. Wie drückt es Josh so schön aus? „If you didn’t like it: Fuck off!“ Aber die Gefahr besteht wohl gar nicht …
Und überhaupt: Wo bislang die Glieder nur zitterten, fangen sie bei Kadavar an, richtig zu zappeln! Ich bin noch gar nicht ganz damit fertig geworden, mich zu wundern, wie groß die Band geworden ist, die ich zuletzt im Universum als Vorgruppe sah, als sie mich praktisch ummähen. Nach der ganzen Up-Tempo-Attacke kommen die drei Berliner zwar in eher gemütlichem Mid-Tempo daher. Aber wie! Das drückt. Das schiebt. Klar, auch die Optik ist super: Drei Pyramiden erstrahlen in verschiedenen Farben, und vor der riesigen mittleren sieht man die Silhouette des Haare wedelnden und Arme schwingenden Schlagzeugers Christoph „Lupus“ – trotz der Einfachheit ein anhaltend schöner Effekt. Am stärksten zeigt er sich wohl daran, dass es nach dem dritten Song schon reicht, dass er mal aufsteht und die Arme reckt, damit das längst entflammte Publikum austickt.
Jetzt macht sich definitiv Euphorie breit. Ich meine, ich habe zehn oder zwölf Konzerte gesehen im letzten Monat, aber so gebrannt wie hier hat die Hütte, soll heißen Pyramide, wirklich nirgends. Kadavar kennt nur eines: nach vorne. Der Sound dabei ist warm und so super wie die Songauswahl, die viel Altes mit Neuem mischt. Er pulsiert. Er kriecht. Wie ein atmendes Wesen. Sieben Meilen lang. Das groovt. Das bebt. … das alte Zeug etwas mehr … das neue kommt schneller daher und macht mehr Druck. Auch der alte Fuzz ist noch da, aber die Abmischung ist jetzt ausgewogener. Es ist einfach unglaublich, was für eine Wucht die Band entfaltet. Einfach unfassbar. „Eieieieiei“, sagt Christian Wölzlein. Das bringt die Sache ziemlich auf den Punkt. Was will man auch sagen zu diesen flackernden Melodien, die sich über einen Rhythmus dahinschleppen, der alles in Grund und Boden zimmert? Das groovt wie Hölle. Früher hatte Kadavar was Okkultes an sich. Jetzt ist es einfach nur noch magisch. Und das Publikum rastet völlig aus.
Am Schluss pfeifen mir die Ohren. Sie sausen noch von all den Melodien. Was für ein Abend. Man spürt richtig, dass einen diese unglaublich fette Show wie Strom durchfließt. Das gibt einem richtig Energie.
Das war wieder so einer, so einer dieser seltenen euphorisierenden Momente, der einen noch für Wochen beschwingen wird.
Beim Lesen dieser Zeilen wird man echt neidisch, nicht dabei gewesen zu sein…