KRAFTWERK, 29.11.2015, Liederhalle, Stuttgart
Statik passt einfach nicht zu unserer Musik!
ließ Kraftwerk-Gründungsmitglied Ralf Hütter 2009 in einem seiner ausgesprochen raren Interviews den Stern wissen und konterkariert gleichzeitig das eigene Bühnengebaren wie auch das Verhalten des Publikums. Denn so dynamisch die fein ausgetüftelten elektronischen Klänge Kraftwerks im Inneren des Beethovensaals, jenem Stuttgarter Vorzeigebau für akustischen Hochgenuss, pulsieren, so stoisch ist die Performance des nunmehr 69-jährigen Hütter und seiner jüngeren Mitstreiter Fritz Hilpert, Henning Schmitz und Falk Grieffenhagen. Und auch das Publikum ist aufmerksam lauschend, beeindruckt von der visuellen Kraft der Show. Das Quartett auf der Bühne steht nahezu reglos im an Taucheranzüge erinnernden Bühnenoutfit hinter geradlinigen Pulten und wird kollektiv durch schmale weiße 3D-Brillen angestarrt. Ein vorsichtiges Wippen der vier Musiker im Takt ist zunächst das menschlichste Element des Auftritts:
„1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8“, schallt es kristallklar aus den Boxen. Es ist laut, die Bässe sind tief und der Sound hervorragend, während die Performance mit dem alterlosen „Nummern“ vom 1981er Album „Computerwelt“ druckvoll beginnt.
Nachdem Ralf Hütter nach dem Ausstieg von Florian Schneider 2009 als einzig verbliebener Gründer und Rechteinhaber die Selbstkanonisierung und Musealisierung Kraftwerks in ungeahntem Maß vorantrieb, ist es doch einigermaßen erstaunlich, dass nun so etwas wie eine reguläre Tour stattfindet. Natürlich ist auch diese Tournee keine herkömmliche Konzertreihe, sondern eine ästhetische Hochglanzproduktion in 3D, ein visuelles Konzerterlebnis, das in dieser Form weltweit einmalig ist. Dennoch sind diese Auftritte ein Schritt zurück in die Welt klassischer Popkonzerte; schließlich trat Kraftwerk in den vergangenen Jahren fast ausschließlich in den wichtigen Kunstmuseen und Galerien der Welt vom New Yorker MoMA bis hin zur Londoner Tate Modern auf und spielte prinzipiell vor allem Konzerte in besonderem Rahmen. Gekoppelt war das alles an beeindruckende Ausstellungen. An die Stelle traditioneller Greatest-Hits-Touren anderer Größen der Pophistorie tritt hier eine Retrospektive. In der Regel spielte man in diesem Kontext den Gesamtkatalog der Band in gesonderten Konzerten.
Dass Kraftwerk in diesem Jahr bereits mehr Konzerte als in jedem weiteren des über 40-jährigen Bestehens spielte, spricht Bände. Nichtsdestoweniger sind alle Konzerte restlos ausverkauft. Das Modell der künstlichen Verknappung mit Auftritten in relativ kleinen Hallen zeigt Wirkung. Die Zuschauer stürzen sich auf die Karten und pilgern voller Ehrfurcht zum sehnlichst erwarteten Stuttgarter popkulturellen Event des Jahres.
Die Güte des Auftritts gibt den Erwartungen recht: „Computerwelt“, „Heimcomputer“ oder Unwiderstehliches wie „Computerliebe“ früh im Set verdeutlichen ganz nonchalant den Einfluss der Musik Kraftwerks auf alle später entstandenen Genres vom Electropop über Techno bis hin zur Sample-Kultur des Hip-Hops. Dass Kraftwerk vermutlich die einzigen Techno-Konzerte spielen, auf denen fast nicht getanzt wird, ist insofern konsequent, da die Wirkung der 3D-Bilder schlicht überwältigend ist. Selbst Zuschauer, die das Programm bereits mehrfach gesehen haben, schwärmen nach dem Konzert in höchsten Tönen.
Besonders charmant gelingt die 3D-Umsetzung bei „Spacelab“. Als Zuschauer wähnt man sich zunächst in einer Raumstation im All, die um die Erde kreist. Satelliten bewegen sich auf einen zu und zerschellen kurz vor dem eigenen Auge. Eine herrliche Illusion. Wie auf einer Google-Maps-Karte erkennt man irgendwann eine Markierung auf der Erde, an einer Stelle, die Stuttgart sein könnte, der man sich nähert. Ein UFO fliegt einem entgegen. Dann erscheint die Liederhalle, vor der das Raumschiff unter tosendem Applaus landet.
Die Setlist selbst ist ein grandioser Querschnitt durch die großen Alben der Band. Welthits wie „Das Model“, „Neonlicht“ und das ganz selbstverständlich ausschweifend zelebrierte „Autobahn“ zementieren noch einmal, mit welch‘ feinem Händchen für einnehmende Melodien die Düsseldorfer an ihrem kompositorischen Zenit gesegnet waren. Als „[e]lektronisch erzeugte Volksmusik aus dem Rhein-Ruhrgebiet“ hat Hütter das eigene Werk einmal bezeichnet und beschreibt damit gleichzeitig subtil das Geheimnis für den Erfolg des zweifelsohne wirkmächtigsten popkulturellen Erzeugnis Deutschlands.
„Ätherwellen“ und „Geigerzähler“ bereiten dem einst Atomkraft positiven „Radioaktivität“ den Weg. Der Klassiker von 1975 entstand damals als Zeugnis eines fortschrittsgläubigen Zeitgeists, wurde später ob der bekannten nuklearen Störfälle und Katastrophen jedoch zur ausdrucksstarken Kritik abgewandelt: „Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield, Hiroshima“, zählt Hütter mit verzerrter Stimme auf, wiederholt „Tschernobyl, Harrisburg, Sellafield“ und ergänzt „Fukushima“. Es folgt eine Strophe auf Japanisch als bewegender Appell der „No Nukes“-Bewegung:
Stop Radioaktivität / Weil’s um uns’re Zukunft geht!
Die Verschmelzung von Mensch und Maschine mittels sportlicher Betätigung thematisierte der leidenschaftliche Radsportler Hütter mit dem großartigen Album „Tour de France“: „So sahen wir das Radfahren – der Mensch in Einheit mit der Maschine“. In Stuttgart ist die Melange aus der 1983er Urversion von „Tour de France“, „Tour de France Étape 2“ und der Neuauflage von 2003 ein herausragender Moment des Konzerts, ergänzt mit beeindruckenden historischen Bildern.
Passend schließt eine fulminante Version von „Trans Europa Express“ an, die monochromen Videos fesseln, das monotone „Metall auf Metall“ folgt, kurz darauf das Ende des regulären Konzert.
Das großartige Stück „Die Mensch-Maschine“, das Hütter weiland mit dem bis heute begeisternden Ex-Kollegen Karl Bartos schrieb, vom gleichnamigen 1978er Hitalbum ist ein starker Moment des Konzerts. Es ist so etwas wie die in Töne gegossene Manifestation dessen, was Hütter zunehmend verfolgt; nämlich die endgültige Kanonisierung Kraftwerks als wichtiges Bindeglied zwischen moderner Technik und Musik, als etwas, das gleichzeitig die in Deutschland bis heute vorherrschende Diskrepanz zwischen E- und U-Musik auflöst und etwas Neues schafft, das zumindest in musealen Kontexten einen ewigen Geltungsanspruch verbuchen kann. Kraftwerk kann längst in der Nachwirkung als das auf die Musik bezogene Äquivalent dessen gesehen werden, was Bauhaus für Architektur und Design geleistet hat: Eine gnadenlos stringente Innovation auf ästhetischer wie zweckmäßiger Ebene.
„Kraftwerks Sehnsucht war die, zur ‚Mensch-Maschine‘ zu werden“, konstatierte Tobias Rüther vor ein paar Jahren in der FAZ punktgenau. Ralf Hütter hat dieses Vorhaben mit zunehmender Konsequenz realisiert. Die aktuelle Tour führt dies einmal mehr vor Augen. Der ersten Zugabe, dem zeitlosen Electro-Pop-Evergreen „Die Roboter“, wohnen weder Hütter noch Kollegen bei. Stattdessen stehen tatsächlich die schaufensterpuppenhaften Roboter in roten Hemden zur blinkenden schwarzen Krawatte wie bei Kraftwerk-Inszenierungen anno 1978 auf der Bühne. Es passt zum wohldurchdachten Konzept, dass sich die gänzlich zum Avatar der Mitglieder gewordenen Automaten weit ausschweifender bewegen: „Wir funktionier’n Automatik / jetzt woll’n wir tanzen Mechanik“. Hütter selbst erklärte jüngst dem RBB: „Das ist eine Verinnerlichung dieses Gedankens der Mensch-Maschine, dass der Mensch als Roboter maschiniert. […]. Die Roboter tragen unsere originalen roten Hemden, die wir konserviert hatten, und Krawatten mit neuen Leuchtdioden. Die alten waren leider kaputt. Und so lassen wir die Roboter als Menschendarsteller bei unseren Konzerten auftreten.“
Für sechs weitere Zugaben kehren die vier Akteure zurück: „Aerodynamik“ beschwört noch einmal die Radsport-Ästhetik, bevor drei technoide Songs von „Electric Café“ den Abend beenden: „Boing Boom Tschak“, „Techno Pop“ und „Music Non Stop“.
Nach 130 Minuten tritt Hütter abschließend für einen Moment aus der vollends zur Mensch-Maschine gewordenen Performance hervor, wünscht ohne Vocoder verzerrte Stimme „einen schönen Abend“ und verabschiedet sich mit einem freundlichen „bis bald“. Ein neues Album ist auch geplant. Doch folgt heute erst einmal der zweite Auftritt in der Liederhalle, ganz getreu dem in den letzten Stücken des Abends formulierten Mantra der Mensch-Maschine: „Es wird immer weitergehen / Musik als Träger von Ideen“.
2014 begann ja mit der Karl-Bartos-Tour und es endete mit dem Kraftwerk-Auftritt im ZKM (übrigens ausnahmsweise mit Florian Schneider). Bartos Standpunkt ist ja: Hey, Kraftwerktracks sind am Ende (weitestgehend) auch „nur“ Songs, die auf die Konzertbühne gehören.
Nicht, dass Hütter auf seinen Ex-Kollegen hören würde, aber in der Tat ist die derzeitige Aktivität Kraftwerks erstaunlich. Vielleicht ist sie auch Hütters Alter geschuldet.
Das war auf jeden Fall eine großartige Show. Und sie hat sich von allem abgehoben, was ich bis dahin gesehen habe – was ja nicht gerade wenig ist.
Interessant fand ich auch, wie der noch weniger fotorealistische Touch früherer Computergrafik hier als eine Art postmodernistische Selbstreflexion eingesetzt und stilisiert wurde. Vielleicht war das Konzert eine Retrospektive. Falls ja, jedoch eine mit nach vorne gerichtetem Blick.