ANTI-FLAG, RED CITY RADIO, TROPHY EYES, THE HOMELESS GOSPEL CHOIR, 5.11.2015, Im Wizemann, Stuttgart

Anti-Flag

Foto: Steffen Schmid

Während ich etwas erschlagen da sitze, verschwitzt, meine blauen Flecken mit der kalten Bierflasche kühlend, versuche ich meine Gedanken, die um Gewalt, Rassismus, Rückgrat und Bad Religion kreisen und auch meine Eindrücke zu sortieren, die wiederum – begleitet von einem Pfeifen in den Ohren – fasziniert und euphorisch sind, um schlussendlich diesen Bericht schreiben zu können. Und wie immer ist es wohl am besten mit dem Anfang zu beginnen und damit sah es gar nicht so gut aus.

Denn der kleine Saal im Wizemann füllt sich sehr zäh und zaghaft. Das Publikum hat so gar nichts Punkhaftes an diesem Abend. Außer eventuell zwei Punkmädchen mit grün gefärbten Rastas und Nietenhalsband, die von ihrem Vater begleitet werden. Ansonsten ist das Publikum insgesamt ein sehr junges mit versprengselt auch ein paar älteren Semestern oder dann eher etwas Hipster-lastige Alternativmenschen. Meine Gefühle sind gemischt.

Doch der erste Künstler des Abends ist der äußerst sympathische Derek Zanetti aka The Homeless Gospel Choir ebenfalls aus Pittsburgh, genau wie Anti-Flag, der sich selbst so beschreibt: „The Homeless Gospel Choir (Derek Zanetti) (me) is a one man band from Pittsburgh, PA, who is looking to make honest music that relates to everyone“. Sein Outfit wirkt tatsächlich etwas homelessmäßig und mit seiner umgehängten Schraddelgitarre wirkt er wie ein Punk-Bob-Dylan, der mich in seiner fast trotzigen Beharrlichkeit an Micha Schmidt von Stuttgart Rock Promotion erinnert, der am Eingang seine Flyer für die aktuellen Konzerte verteilt. Es geht dagegen; gegen Polizeigewalt, Gewalt allgemein, Rassismus, Kapitalismus usw. und eigentlich überflüssiger Weise wird jedes Lied mit „this is a protest song“ angekündigt.

Trophy Eyes

Foto: Steffen Schmid

Gleich im Anschluss, es ist nun ca. 20 Uhr, kommen Trophy Eyes aus Australien auf die Bühne. Fünf junge und ungestüme Burschen, die sehr schnellen, sehr lauten Krach machen. Das hört sich irgendwie gut an und doch auch nicht, denn der Sound ist nicht ganz so überzeugend. Die Lieder lassen auf Hardcore-Vorbilder schließen, doch die Stimme des Sängers ist etwas dünn geraten – beim Schreien geht’s. Doch der Funke will nicht recht überspringen, denn die Lieder sind dann doch recht gleichförmig und ähnlich, werden auch etwas lieblos vorgetragen und lassen Monotonie aufkommen trotz aller Geschwindigkeit und lautem Shouting. Entsprechend kurz und schmerzlos ist auch der Abschied.

Red City Radio

Foto: Steffen Schmid

Ebenfalls fast nahtlos geht es mit Red City Radio weiter, die aus Oklahoma stammende Combo ist seit 2007 aktiv und tritt in einer klassischen Viererbesetzung auf. Wobei man erwähnen muss, dass der Frontmann – eher ein Ska-Typ mit Hut, Bäuchlein, Schnauzer und Kiss T-Shirt – eine Flying V spielt, die eher im Heavy Metal zuhause ist! Der Saal ist nach wie vor eher locker gefüllt und das noch immer eher statische Publikum macht auch keine Anstalten aufzurücken. Ich frage mich schon, ob die hier vielleicht doch alle noch zu jung sind und dieser Gedanke findet Bestärkung als der Sänger, der bereits mit fast verzweifelt daher kommenden „Stuttgart“-Rufen versucht anzufeuern, nun auch noch nach einem „put your hands in the air“ vormachen muss, wie man mitklatscht. Das hat schon etwas von einem Grundkurs ins Sachen Punk-/Rockkonzert.

Der Sound ist zwar etwas besser geworden, jedoch noch nicht ideal und auch die Stückchen von Red City Radio sind eingängiger, grooviger und lassen so nach dem vierten Lied den Stimmungspegel etwas ansteigen. Dazu trägt aber zweifelsohne auch die Ausstrahlung des Sängers Garrett Dale bei und die höhere Bühnenpräsenz der anderen Bandmitglieder macht sich ebenfalls bezahlt; der gut sichtbar tätowierte Schlagzeuger spielt im Badehöschen. Es gibt sogar einen klitzekleinen Pogo-Pit und es kommt zu mehrfachem Crowd-Surfen, allerdings muss man fairerweise sagen, dass es sich dabei immer um die gleiche Person handelt. Insgesamt ist die Stimmung aber doch eher zurückhaltend und es macht den Eindruck, als wären eher ein paar neugierige Kids gekommen, die sich das mal anschauen wollen. Aber: ich persönlich hoffe ja noch auf den Bad Religion-Effekt.

Für den Anti-Flag-Auftritt wird richtig umgebaut. Eigenes Schlagzeug, eigenes Equipment und eigenes Banner. Darauf ist auf verfremdete Weise ein Soldat zu erkennen, der ein Maschinengewehr hält, das jedoch aus Blumen und Schmetterlingen besteht. Dazu kommen kleinere Bühnenbanner links und rechts über die Verstärker mit „An Army Of One“ und „Pray For A Cloudy Day“ sowie Abbildungen von Kampfdrohnen und Kindersoldaten. Und auf der Basedrum ist der berühmte und zum Markenzeichen gewordene Stern zu sehen, der aus fünf geknickten Maschinengewehren besteht; auf einem Ständer ist ein Megaphon montiert. Also ziemlich klar, was hier Phase ist.

Anti-Flag

Foto: Steffen Schmid

Und tatsächlich, da ist er, der von mir ersehnte Bad Religion-Effekt. So habe ich es vor vielen Jahren regelmäßig auf Bad Religion-Konzerten erlebt, dass das Publikum bei der Vorband zwar ein bisschen wippt und auch pflichtschuldig applaudiert, mehr aber auch nicht. Doch ab dem ersten Ton von Bad Religion verwandelte sich der ganze Saal regelmäßig und zuverlässig in eine einzige Pogo-Bahn. Und so ist es auch heute Abend: Alle scheinen nur auf Anti-Flag gewartet zu haben und gehen ab dem ersten Lied so richtig ab (wie die berühmte Katze des Schmidts) und mir geht das Herz auf.

Der Sound ist um Längen besser als zuvor (so zumindest meine subjektive Wahrnehmung) und die Jungs von Anti-Flag sind bester Laune und Spielfreude. Seit mehr als 20 Jahren gibt es von Anti-Flag gesellschafts- und sozialkritische Punk-Statements, die vor keinem relevanten Thema Halt machen. Sie sind durch und durch politisch und prangern Polizeigewalt, Rassismus, Frauendiskriminierung und Homophobie genau so an wie Kapitalismus, Waffenhandel, Drohnenschläge und Kriege jedweder Art. Und sie wollen damit wachrütteln und jeden einzelnen zum Nachdenken bringen. Auch das 2015 erschiene Album „American Spirit“ lebt diesen Geist. So dramatisch und gutmenschlerisch sich das anhören mag: Anit-Flags Punkattitüde ist keine Plattitüde und absolut authentisch und glaubwürdig – nach wie vor.

Anti-Flag

Foto: Steffen Schmid

Und ja, man kann dabei auch Spaß haben – und wie! Wie gesagt, vom ersten Lied an ist die Stimmung wie auf Knopfdruck da und es wird ausgelassen gepogt, crowdgesurft (diesmal sind durchaus viele daran beteiligt), gesprungen, gesungen, dass es richtig ansteckt. Und schließlich kann ich mich ebenfalls nicht mehr auf meiner Beobachterposition halten und stürze mich unter den ungläubigen Blicken einiger Elternaugen in die Menge. Für die gute Sache, für den Punk, für die Musik und weil’s einfach irre Spaß macht. Sänger Justin Sane und Mitsänger und Bassist Chris #2 fordern bei mehreren Gelegenheit auch zum Circle-Pit auf: Dabei laufen zunächst geschätzt 80% des Publikums im Kreis, um dann beim richtigen Einsatz genau in diesem großen Kreis weiter wild Pogo zu tanzen. Fantastisch!

Was die Setlist betrifft, bleibt sozusagen kein Fan-Wunsch unerfüllt, denn es ist aus allen Schaffensphasen etwas zu hören. Zum Einstieg gab es gleich den Klassiker „Turncoat“ um die Ohren vom 2003er Album „The Terror State“, von dem es im Verlauf noch „Peaceful“ und „Death Of A Nation“ zu hören gab. Natürlich waren auch „F*** Police Brutality“ und der Titelsong vom 1996 erschienen „Die For The Government“ mit von der Partie. „For Blood And Empire“ (2006) war mit dem großartigen „This Is The End (For You My Friend)“, „1 Trillion Dollar$“ und „Hymn For The Dead“ vertreten. Und selbstredend waren auch einige Songs vom neuen und äußerst gelungenen  „American Spirit“ Album vertreten, wie „Fabled World“, „Believer“ oder „Brandenburg Gate“.

Anti-Flag

Foto: Steffen Schmid

Nach 15 Songs musste man Justin Sane, Pat Thetic, Chris Head und Chris #2 nicht lange bitten, nochmals für Zugaben auf die Bühne zu kommen oder wie Sane es formuliert „hang out for a few more“. Immer wieder gibt es zwischen Songs kritische Statements zu den bekannten Themen, und es wird zum Nachdenken und zu Widerstand aufgerufen oder auch mal dazu, den Mittelfinger zu recken („F*** Police Brutality“). Und jetzt zollt die Band große Bewunderung und Lob für die deutsche Hilfsbereitschaft in Sachen Flüchtlingskrise und unterstreicht, wie wichtig es ist, auf diese Grundwerte zu achten, Menschen in Not zu helfen und nicht aus Macht- und Geldgier zu handeln. Der erste Zugabenhöhepunkt ist nun, dass Derek aka The Homelese Gospel Choir auf die Bühne kommt und gemeinsam mit Anti-Flag musiziert.

Anschließend gibt es gleich noch einen zweiten Höhe- und zugleich den Schlusspunkt: Schlagzeuger und Bassist kommen mitsamt ihren Instrumenten mitten ins Publikum und spielen dort die letzten beiden Zugaben „Brandenburg Gate“ und „Die For The Government“, was von den Fans überschwänglich goutiert wird und fast zur Belagerung der beiden Musiker führt und bereits Wachmenschen in Alarmbereitschaft versetzt. Doch Sane und Thetic haben sichtlich genauso viel Spaß an der Sache wie der Rest im Publikum. Mit zahlreichen Dankesbekundungen und unter frenetischem Applaus verlassen die Punkrocker schließlich Saal und Bühne. Schon lange nicht mehr haben sich blaue Flecken so toll angefühlt.

Anti-Flag

Foto: Steffen Schmid

Anti-Flag

Red City Radio

Trophy Eyes

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