TEXTOR, 05.10.2016, Tonstudio, Stuttgart
Es ist schon reichlich skurril, in der Setliste auf einen Titel von Marika „Hormocenta“ Rökk einen frühen Kraftwerk-Titel folgen zu lassen. Dies dann aber als geradezu zwangsläufige Abfolge zweier deutscher „Nachkriegsschlager“ darzustellen, dazu bedarf es schon der Eloquenz einer Band wie Textor, genauer gesagt: ihres wortgewandten Frontmannes Henrik von Holtum.
Es ist Montagabend und nach dem x-ten Newsletter der Montage-Gruppe setze ich endlich meinen Entschluss um, diese Veranstaltungsreihe im mir immer noch unbekannten Tonstudio zu besuchen. Der Hinweis auf Textors Herkunft aus den Kinderzimmer Productions hat mich gelockt. Vor ein paar Jährchen im Schocken hat mich nämlich genau diese Kapelle mit dem Genre HipHop versöhnt. Dass dies durchaus erwachsenentaugliche Musik mit Humor und Hintersinn und ohne permanenten Griff in den Schritt sein kann. Und auch wenn das Tonstudio am Wochenende offensichtlich einiges aus dieser Ecke auf dem Programm hat, bei der Montage-Gruppe sind Experiment und Vielfalt das Prinzip, und heute bewegen wir uns irgendwo zwischen Schlager, Chanson, Jazz und HipHop.
Knapp dreißig Besucher haben sich in dem komplett mit Holz verkleideten würfelförmigen Saal im dritten Untergeschoss eingefunden. Einige Stuttgarter Musiker darunter. Auskenner-Publikum, würde ich sagen. Die Band ist ein Trio: neben von Holtum am Bass und Gesang betätigt sich der Stuttgarter Holger Renz an der Gitarre und Oliver Prechtl am E-Piano und Keyboards. Am Sound und am Startknopf für die elektronischen Beats ist Max Braun tätig.
Das Programm setzt sich tatsächlich weitgehend aus deutschen Schlagern zusammen, von den Dreißiger Jahren bis in die Gegenwart. Wobei hier kein Titel einfach nachgespielt, sondern eher als Quelle für eine freie Interpretation verwendet wird. Der Abend beginnt mit einem Instrumental im Dreivierteltakt, „Morphium“ von Michail Spoliansky. Es folgen – alles ganz locker aus der Hüfte gespielt – eigene Titel wie „Louis Vuittons Tattoo“ oder das forsch gerappte „Sie kriegen uns nie“, aber auch „In der Nacht ist der Mensch nicht gern allein“ (von der erwähnten Rökk), Kraftwerks krautrockiges „Radioland“ und das durch Heidi Brühl bekannt gewordene „Wir wollten niemals auseinander gehen“. Neben einer – angesichts der knappen Instrumentierung – erstaunlichen musikalischen Varianz, bestechen vor allem die unglaublich witzigen und pointierten Texte. So erhält zum Beispiel der durch Trude Hesterberg bekannte idyllische Schlager „Die kleine Stadt“ durch Textors Eingriff so herrlich abgründige Zeilen wie:
Das Motto hier von allen heißt: Leben zieh vorbei,
und sollt es wem entfallen, weiß es die Polizei.
Und wenn man einen Fehltritt tut, dann steht man gleich allein.
So klein, so klein, so klein ist meine Stadt.
Überhaupt: Un-Orte, Kleinstädte und Provinz ziehen sich wie ein roter Faden durch das Programm. Sei es bei der Abhandlung über den Autohof Bockenem an der A7 („Truck Stop“) oder auch als Orte der Verzweiflung wie in „Fahr mich nach Hause“:
Die Hölle ist in Sinsheim, sie kann auch in Schwäbisch Gmünd sein.
Sei es in „Vorm Schleckermarkt“ oder in „Neu-Ulm“, bei all den grotesk-traurigen Szenarien fühlt man sich immer, als wenn man in ein Sittengemälde von Max Goldt eintaucht. Große Lyrik, feiner Wortwitz, unterstützt durch eine subtil aufspielende Band. Besser kann man einen verregneten Abend auf der – in ihrer montäglichen Tristesse ganz schön provinziellen – Theo kaum verbringen.