HERMETO PASCOAL & ANDROMEDA MEGA EXPRESS ORCHESTRA, 15.07.2015, Scala, Ludwigsburg
Euer Lieblingsblog für musikalische Horizonterweiterung hat euch heute was ganz besonderes zu bieten. Und zwar eines der spannendsten Orchester der Neuzeit, welches den gebildeteren Indie-Pop-Häschen durch seine Kollaborationen mit Notwist und Efterklang bekannt sein dürfte. Und als würde das nicht reichen, erfüllt sich dieses Orchester einen Wunsch, indem sie heute Abend mit einer Brasil-Jazz Legende auftreten, der schon auf frühen Jobim und Mendes Platten mitwirkte, und nebenbei noch Songs für Miles Davis komponierte. Es dürfte vorsichtig gesagt, einige unbedeutendere Musikanten auf diesem Planeten geben. Heute Abend im Scala: Das Andromeda Mega Express Orchestra mit Hermeto Pascoal.
Mein letztes Konzert im Scala dürfte das von Goldfrapp Anfang der 2000er gewesen sein. Phänomenal war das, ebenso wie das von Tortoise, die irgendwann davor dort spielten. Ein Konzertort für die besonderen Momente, zumindest in meiner Vita. Im Übrigen ist das dieses Jahr nach Rufus Wainwright schon mein zweiter Besuch der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Entweder ich werde alt, oder die Schlossfestspiele verjüngen ihr Programm, man weiß es nicht.
Die Bühne ist gerammelt voll mit Instrumenten, schließlich werden hier 17/18 Leute Platz finden müssen. Das Andromeda Mega Express Orchestra mit Streichern, Bläsern, Vibraphon, Harfe, Schlagzeug, Flügel, Keyboard und Kontrabass, sowie Hermeto Pascoal, hauptsächlich an einem kleinen Keyboard, die Sängerin Alina Morena und der Perkussionist Fábio Pascoal. Ein Anblick wie ein Wimmelbild, als gegen 20 Uhr das Orchester die Bühne betritt.
AMEO Chef Daniel Glatzel gibt zur Einstimmung ein paar sehr schüchterne Worte, wie es zu diesem Treffen mit Hermeto Pascoal kam, Stichwort: Rieseninspiration für die eigene Musik. Und dann kommt er auch schon auf die Bühne, den Intendanten Thomas Wördehoff als Gehstütze mißbrauchend, und evtl. vorhandene Gehschwächen stark betonend. Man merkt gleich, dass der rüstige Mann zu sympathischen Albernheiten neigt. Und so ist das erste musikalische Lebenszeichen des Duetts folgerichtig auch ein Duett zwischen HP am Klavier, der mit jazzigen Harmonien den etwas schrägen Wördehoffschen Gesangsvortrag von „Ein Freund, ein guter Freund“ begleitet. Guter Typ der Intendant, hat er schon bei Rufus Wainwright gezeigt, und bekommt er in schmeichelnden Worten von Pascoal zusätzlich noch bescheinigt.
Dann geht es aber wirklich los. Laut Programmheft werden Werke von Hermeto Pascoal gespielt. Und das wird eine sowohl fordernde als auch begeisternde Reise werden. Das erste Stück erinnert mich gleich mal an gute Prog Rock Bands wie Magma oder Gentle Giant, die einen jazzigen Soundtrack für einen Stummfilm spielen. Den Druck, den so ein Orchester entfachen kann, kombiniert mit anspruchsvollen Arrangements der diversen Instrumente, ist etwas wunderbares und klingt einfach fantastisch. Pascoal spielt dazu etwas seltsam Flöte, verlässt die Bühne und kommt wieder.
Es folgt ein verträumtes Stück mit butterweich klingenden Harmonien, über die HP zuerst mit einer Melodica soliert, bevor Aline Morena singt. Pascoal produziert dazu fiepsige Störgeräusche. Ich erwähnte die junggebliebende Albernheits-Ader des 79jährigen Herrn, der den darauffolgenden Samba-Part dirigiert, um sich dann zwei Trompeter nach vorne zu holen. Er diskutiert mit ihnen, was geschehen soll, und sie improvisieren zu seiner Begleitung am Keyboard. Spannend, und einstudiert war das bestimmt nicht. Man wird Zeuge, wie Musik am Entstehen ist.
Das ist kein Konzert für Leute, die nur Wohlklang hören wollen. Das folgende Stück weist viele chromatische Akkordwechsel auf, die Sängerin spielt erstmals eine leicht nach Sitar klingende Gitarre dazu. Sehr zwingend, ruhelos klingt das, die Harmonien sorgen für ständige Spannung, selten für Entspannung. Da das Ganze auch mit einer rockmusikartigen Dynamik und Direktheit gespielt wird, wird das einigen Wenigen zu viel und sie verlassen den Saal. Der anwesende Werner von der Manufaktur vermutet Leute mit Klassik-Abos. Auch nach dem Konzert werde ich aus anderen Gesprächsgruppen noch Worte wie „laut“ und „durcheinander“ aufgabeln. Für uns Leute aus der eher rüderen Ecke der Musikgenres ist das alles kein Problem.
Mich fesselt die Musik. Das Ganze artet nie in Freejazz aus, der Rhythmus ist meistens straight und leicht nachzuvollziehen, und die Melodien nur manchmal abstrakt und schwierig. So zum Beispiel mitten im Set, als man das Gefühl bekommt, man sei in einem Fiebertraum, und höre in diesem einem Sambaorchester zu. Hektisch, neurotisch klingt es, wie auf einem Karussell, das sich schneller dreht als gut wäre, im Niemandsland zwischen Harmonie und Disharmonie, aber immer noch alles gerade so unter Kontrolle.
Durchatmen kann man danach, bei einem ruhigen Streicherintro, auf welches die Bläser aufsetzen. Wunderschön, und dann nimmt die Melodie wieder leicht verstörende, fremdartige Züge an. Man darf sich hier nie sicher fühlen, das macht den Abend auch so ungemein reizvoll. Es folgt wieder Musik, die mich jetzt noch stärker an Magma erinnert, Streicher spielen gegen die Bläser, und abgerundet wird das furiose Stück durch ein Perkussions-Solo von Fábio Pascoal, samt verschiedenen Entengeschnatter-Instrumenten.
Nach einer längeren Abstinenz kommt HP dann wieder auf die Bühne, und die Klassikfans dürfen dann „Die Königin der Nacht“ aus der „Zauberflöte“ goutieren. Aline singt das einigermaßen nah am Original, während Hermeto das Ganze mit Jazzharmonien am Flügel ausstaffiert. Beim nächsten Stück zeigt sich sein freier Künstlergeist noch stärker, als er beim Solieren am Keyboard teilweise wirklich seeeeehr frei agiert, was die Wahl der Töne angeht. Und da man sich nie ganz sicher ist, ist das Absicht oder nicht doch schon altersbedingte Fehlfunktion, hinterlässt einen das etwas verunsichert. Nur um im nächsten Moment, wenn er plötzlich wieder in harmonisch vertrauter klingenden Gefilden soliert, in die Erkenntnis umzuschlagen, dass das alles Absicht gewesen sein muss.
Als Zugabe gibt es ein neuerschaffenes Stück, nur mit Sängerin Aline und Pascoal am Flügel, welcher aber zuerst noch mit allerlei Instrumenten befüllt werden soll, die dann schön scheppern, wenn man die Tasten anschlägt. Das dieses Stück dann fast schon wieder klassisch anmutet, passt bestens zum unberechenbaren Charakter von Pascoals Musik.
Zuviel passiert an diesem Abend, um wirklich alles beschreiben zu können. Dieser Mischmasch aus Neuer Musik, Samba, Jazz und Prog hat es mir auf jeden Fall enorm angetan. Solche Konzerte sind ab und an einfach notwendig, um Reize zu setzen. Und die musikalische Brillanz des Orchesters, die in ausführlichen Worten von Pascoal am Ende gewürdigt wird samt symbolischem Hut ziehen vor Daniel Glatzel, kann einen nicht kalt lassen. Bitte gerne wieder!
Hätte ich mir gerne reingepfiffen… ein bisschen Stress muss sein.
Goldfrapp und Tortoise in der Scala sind in der ewigen Top-50-Liste fest verbucht, das waren fantastische Konzerte in einen sehr schönen Saal.
Aktuelles Interview mit Hermes Pascoal: https://taz.de/!5213503;m/