HGICH.T, URSUS, 03.07.2015, Universum, Stuttgart
Übrigens habe ich auch noch meine ganz eigene Verschwörungstheorie parat. Der mächtigste Strippenzieher hierzulande muss die Grillindustrie sein. Anders kann ich mir die immer wachsende Popularität dieser Essenszubereitung nicht erklären. Kaum scheint mal die Sonne tönt’s von überall „Grillen, Grillen, Grillen“. Gibt fast keine jovial daherkommende Wettervorhersage, die ohne die Bemerkung auskommt, dass bei bestimmten Wetterlagen man ja jetzt endlich wieder grillen könne. Ist klar, offenes Feuer und fettige Würste, was Besseres kann man bei 35 Grad Celsius nicht machen. Nur um Nuancen bessere Logik, aber mit deutlich mehr Stil, unsere Wahl, bei diesen subtropischen Temperaturen ins Universum unter hyperaktive Leute mit massiven Aufmerksamkeitsdefiziten zu gehen.
Erste Überraschung allerdings, es ist gar nicht so brütend heiß hier unten. So kann man gleich mal die Szenerie aus Neon-Fäden, die überall, teils aufwendig verknotet, das Universum durchziehen, gemalter Bühnendeko, Goasound und Publikum in Bauarbeiter-Warnwesten, mit Indianerschmuck oder Gartenzwerg-Look mit Latzhose auf sich wirken lassen. Am Merch kann man sich auch neon bemalen lassen, was Tox gleich ausnutzt, um sich ein Pentagram auf die Stirn malen zu lassen. Das zerläuft allerdings sofort, und sieht dann irgendwann eher nach Platzwunde mit neonfarbenem Ausfluss aus. Goa-Kopfschuss muss man sich so vorstellen.
Das Stuttgarter Trio Ursus, mir bisher nur vom Namen bekannt, und weil der gute Linus Volkmann sie mag, betreten irgendwann gegen halb zehn die Bühne, und prügeln einen Eurodance-Grindcore Song als Auftakt runter. Nicht so Metal-Muckermäßig präzise und übertrieben gekonnt, eher so lo-fi und punkig runtergerotzt. Sängerin Élaine Tourette hat sich wie ihre Kollegen Jessica Antifa (Spitzenname, ernsthaft!) und Schlagzeuger Flex Le Bête (u.a. mit Polizeihut und Engelsflügeln bekleidet) optisch schön aufbereitet, und in den Ansagen fallen so schöne Worte wie „camel toe“ und „keep on rollin’“.
Es geht hier also eher um Spaß und Message, Performance mit Mitteln des Trashs, letztendlich also Feierzeit, mit gewollter musikalischer Beschränktheit und lustig-klugen Texten. „Schlag mich die ganze Nacht“ wird über einen Drei-Akkord-Punk geschrien, „Doom wie Brot“ ist ein astreiner Mix aus Kinderorgel-Part und Metal-Refrain. Alles sehr wild, voll mit Energie, aber auch anstrengend. Musikalisch so gar nicht meins, aber vom ganzen Ding her natürlich 100% sympathisch und live eine Riesensause. Kommt dementsprechend saugut an, die Leute sind heute Abend eh auf Verstörung programmiert. Und mit der netten Publikumsbeschimpfung aka Verabschiedung „Ihr scheiss Hippies, feiert euren Goa-Mist ohne uns“ erobern sie mein Herz sowieso im Sturm.
Appropos Goa, von Tox bekomme ich zu Beginn des Abends gleich die Vorgabe, dass der Begriff mindestens 20mal im Text erwähnt werden muss. Also gut, am Merch gibt es ein T-Shirt mit „Goa Goa Goa“ Beschriftung, und in der Umbaupause legt eine rauchende MC, die zum Künstlerkollktiv der HGichT.s gehört, ebensolchen Sound auf. Keine Zeit zum Durchatmen, sondern gleich harter Rave. Dieses Abfeiern von Goa, dieses von mir schon totgeglaubte Ding aus 90ies Techno-Jungle, kiffendem Hippietum mit chemischen Drogen auf der Optionsliste, Rasta- und Batikästhetik samt Hacky-Sack spielen, scheint schon auf den sehr durchgeschossenen Humor von HGich.T hinzuweisen. Der Typ mit Indianerkopfschmuck tanzt derweil gekonnt zu Beats, die nach ganz frühen Prodigy klingen. Die Umbaupause ist integraler Bestandteil des HGich.T Auftritts.
Mittlerweile gibt es schon laute „Ha-Ge-Ich-Te“ Sprechchöhre, und schließlich ertönt die „Tatort“-Melodie, und der wirkliche Auftritt kann beginnen. Auftritt im Sinne von Irrenhaus, verstörende Performance, Party irgendwo ganz weit draußen oder drinnen, in einem kaputten Reihenhaus des Unterbewusstseins. Sänger Anna-Maria Kaiser sieht schlimm nach extrem langweiligem Büroangestellten aus, und stammelt bedauernswerte Wortfetzen („Schlaf mit mir“) zu kruden Synthieklängen, die von Metalparts unterbrochen werden. Der Rest der nicht minder skurillen Bühnenbesetzung tanzt und ravet dazu, dass es nur so eine Freude ist. Erster Gedanke, so würde ich mir die Les Humphries Singers vorstellen nach 20 jährigem Halluzinogen-Mißbrauch mit anschließend gescheiterter Reha. Tox meint nach einer Weile: „Das ist alles so falsch.“
Der Gesang, bzw. das völlig unmelodiös, autistisch heruntergesprochene Zeug, ist vom Sound leider nicht immer sehr gut zu verstehen. Ob „Die Wurst muss auch mal raus“ tatsächlich so gesagt wurde, weiß ich nicht, aber was sehr viel anderes kann es eh nicht gewesen sein. „Hilfe, ich bin unbegabt“ ist hingegen deutlich zu verstehen. Die Musik dazu schwankt zwischen allerunsubtilstem Technogekloppe aus den 90ern, langsamen Parts, in denen die nach stream of consciousness klingenden Texte dominieren, es gibt aber auch astreine, gesampelte Metalsoli zu hören.
Das ist sowohl anstrengend und musikalisch ordentlich mies, als auch herrlich verstörend und befreiend (alles ist erlaubt, auch wenn’s furchtbar und sinnlos klingt). Innerhalb von Sekunden schwanken die Gedanken von „phänomenaler Scheissdreck“ zu „vielleicht doch geniale Vertonung einer zerfaserten Realität“. Bemerkenswert ist der unbedingte, gnadenlose Wille zur Party. Der Sänger ist mehr im und auf dem Publikum, als auf der Bühne. Auf der hingegen wird getanzt, geposet, gesoffen. Im Publikum ist es keinen Deut anders.
Appropos Publikum, nicht nur arty Raver mit Abi und Alkopop-Feierjugendliche gibt es zu sehen, sondern auch Metal-Typen und ältere Musik-Connaisseure, teilweise bemerkenswert textsicher die Leute. Welche Metaebene die Band mit ihrer Musik jetzt eigentlich genau meint, und welche Metaebenen bei den verschiedenen Teilen des Publikums ankommt, bleibt ein Geheimnis. Je nach Promillegrad dürfte das auch im Laufe des Abends variieren. Man kann aber auch die Metaebenen, wenn’s überhaupt welche gibt, einen guten Mann sein lassen und zum Saufen tanzen, bzw. umgekehrt.
Die Hits „Hauptschuhle“ und „Tutenchamun“ (knapp eine Million Klicks auf youtube für so ein Video, das ist auch schon wieder sehr faszinierend) werden natürlich unter großem Gefeiere gespielt, ebenso die, diesmal von der Sängerin vorgetragene, Ballade mit dem schönen Refrain „Künstlerschweine, ja ich brech euch die Beine“. Das Konzert wogt ständig zwischen verzögernden Momenten, ohne strikte Beats, und dann wieder heftigen Tanz-Eruptionen.
Ansonsten dominieren Anna-Marias Claims die Songs. „Lagerfeld, Du geile Schlange“, „Ich steh auf dem Klo und zieh mir die Klamotten meines Vaters an“, „Ich lass erstmal einen fahren“, „Revolution der Zwerge“, so Texte gibt’s halt. Tox spricht gar von einem Goa-Hitler. Ebenso richtige wie auch komplett falsche Assoziation. Wenn ich nicht schon was von Wenzel Storch gesehen hätte, würde mir der Abend noch größere Schwierigkeiten in der Rezeption des Ganzen verursachen. Man sollte eine gewisse mentale Elastizität mitbringen.
Mein Fazit, nachdem ich vor diesem Abend HGich.T nur vom Heinz Strunk Video „Geht ja gar nicht“ kannte: Elendiger Mist und großartige Kunst, alles zur selben Zeit. Faszinierender Wille zur Freiheit und zum Abfeiern, sowie anstrengendes, unmusikalisches Dilettantentum. Ein Riesenspaß und die nervigste Verneinung eines Konzerts, die ich jemals sehen durfte. Eine in Konzertform gegossene, schwere Geisteskrankheit. Wahrscheinlich würde ich wieder kommen.