ENNIO MORRICONE, 18.02.2015, Schleyerhalle, Stuttgart
S~O~U~N~D G~I~G~A~N~T~E~N sonorte Anfang der 1980er Jahre eine tiefe Stimme im ZDF-Vorabend-Werbeblock über wild zusammengeschnittene Passagen der eindrucksvollsten und ergreifendsten Morricone-Western-Soundtracks. Beworben wurde diese K-Tel-Compilation. Mein Freund Steffen und ich waren fasziniert. Wir klebten vor dem Nordmende-Fernseher, um diesen Spot so oft wie möglich sehen (oder besser hören) zu können. Ein paar Tage später kam Steffens großer Bruder Axel mit eben dieser Zusammenstellung als Kaufkassette um die Ecke – eine Offenbarung. Das war vor über 30 Jahren, ich hatte diese Episode längst vergessen… bis heute Abend, da ziehen die Orchesterklänge eben jene Erinnerung aus einer Sofaritze meines Großhirnsalons: eine sehr besondere Erfahrung zu Beginn eines sehr besonderen Konzertes.
Kurz nach acht, 75 Sänger und 86 Orchestermusiker des tschechischen Nationalorchesters später, betritt ein alter, eleganter Herr in Jackett, Rolli und schwarzer Hornbrille die Bühne – der 86-jährige Ennio Morricone. Die vollbestuhlte und beinahe vollbesetzte Schleyerhalle applaudiert. Es ist Erfurcht und Hochachtung zu spüren, trotz des nüchternen Charmes der Arena. Morricone setzt sich auf seinen Drehstuhl, wendet sich seinen Musikern zu und gleich geht es los mit dem triumphalen Thema aus Brian De Palmas Die Unbestechlichen, gefolgt von drei Stücken aus Es War Einmal In Amerika. Beim einleitenden Harfenspiel der Titelmusik von Neunzehnhundert ist von den geschätzten 8.000 Zuhörern nicht ein Mucks zu hören. Meine diesbezügliche Notiz macht gefühlt einen Höllenlärm, da wird der Kuli zur Kreissäge. Kein Smartphone fuchtelt durch die Gegend, es hält sich tatsächlich jeder an die Aufforderung, das Taschenfon in der Tasche zu lassen. Das sehr gemischte Publikum möchte diese Musik hören, und so weilt es gebannt einem über Großleinwände übertragenem und durch die PA verstärktem orchestralen Konzert in einer Mehrzweckhalle. Das muss wohl an Ennio Morricone liegen, der sich das alles ausgedacht hat.
In jedem Kurzartikel wird von Morricones über 500 Soundtracks geschrieben und dass davon nur etwa 30 Western seien (Morricone gibt das bei Interviews immer in Prozent an). Weniger häufig werden seine musikalische Einflüsse und Auffassungen über Musik ausgebreitet. Sein Bestreben sei es, tonale und atonale Musik zu verbinden, gibt deshalb folgerichtig in der Regel Bach und Webern, aber auch Strawinsky als Vorbilder an. Dessen Rhythmik hört man deutlich in der Konzertversion von The Battle Of Algiers. Strawinskys Le Sacre Du Printemps wird hier auf dem Zitateschlachtfeld geopfert. Wichtig ist Morricone auch die Unterscheidung zwischen angewandter Musik, die einem bestimmten Zweck wie der Untermalung eines Filmes dient, und absoluter Musik, die für sich selbst steht. Beide Gattungen haben ihre Daseinsberechtigung und seien nicht unterschiedlich zu bewerten. Der alte Herr knabbert bis heute daran, dass er von den Musikkritikern lange nicht ernst genommen wurde. Er sei ausgebildeter Komponist, das sei schweißtreibende, schwere Arbeit am Schreibtisch. Nur die Ohrfixierten komponieren am Klavier. Im Interview des Magazins Klassikinfo wird er zum Soundtrack von Harry Potter befragt, den er nicht komponierte. Morricone: „Wie hieß der Typ: Harry Popper?“
Morricone hat in den 1970er Jahren auch Filmmusik für diverse Erotikstreifen komponiert, die wundervolle Zusammenstellung namens Mondo Morricone zeugt davon. Diese Musik sprüht vor Leichtigkeit, Musikalität und raffiniertem Arrangement. Zwei dieser Stücke haben sich auf die Setlist hochgeschlafen: „Metti Una Sera A Cena“ und „Uno Che Grida Amore“. Um im Bild zu bleiben: Für mich kleine Höhepunkte des heutigen Abends. Ok, albern. Ist aber wirklich großartig.
Nach der Pause hat der Maestro ernste, traurige und schwierigere Kompositionen ausgewählt (Chi Mai, Cinema Paradiso und andere), der zweite Block endet mit drei Stücken des Films Mission. Große Chorstücke, denen ich nicht ganz folgen kann, zu sehr mäandrieren sie um sich selbst.
Ganz Popstar lässt Ennio Morricone sich zu drei Zugaben herausklatschen, dazu wird selbstverständlich gestanden. Er ist sichtlich erschöpft, aber glücklich. Es ist anzunehmen, dass dies seine letzte Tournee sein wird. Vielleicht ist deshalb die Wahl der abschließenden Musik als eine Botschaft an seine Fans zu verstehen: On Earth As It Is In Heaven.
The Untouchables
Deborah’s Theme
Poverty
Once Upon a Time in America
Legend of 1900
H2S
The Sicilian Clan
Metti una sera a cena
Uno che grida amore
Come Maddalena
The Good, the Bad, and the Ugly
Once Upon a Time in the West
A Fistful of Dynamite
The Ecstasy of Gold
Chi Mai
Cinema Paradiso
Malena
The Battle of Algiers
Investigation of a Citizen Above Suspicion
Sostiene Pereira
La classe operaia va in paradiso
Casualties of War
Abolisson
Gabriel’s Oboe
Falls
On Earth as It Is in Heaven
Here’s to You
The Ecstasy of Gold
On Earth as It Is in Heaven
Hier die Setlist mit jeweils verlinkten Videos nachzuhören.
Gerade noch so verhinderte Spontan-Tränenausbrüche, Gänsehaut im Minutentakt. Ich fand es phänomenal! Das war mein absolutes Highlight unter sehr vielen anderen: