LIONEL RICHIE, 11.02.2015, Schleyerhalle, Stuttgart
„Team Lionel“ steht auf den Hoodies, die es für schmale 80 Euro am Merchandise-Stand zu erwerben gibt. Die Abgrenzungshaltung der treuergebenen Fanschar soll optisch herausgestellt werden. Dabei geht es gar nicht um den Fußballstar Messi, sondern um Richie, den einstigen Motown-Soulsänger, der sich in den 80ern als Inbegriff eines Schmusesängers reinkarnierte und später ganz zeitgeistig seine Fühler in Richtung Eurodance ausstreckte.
„Wenn so viele, wenn 6.000 Leute oder so, nur wegen dir kommen“, erzählt der Mittdreißiger in Camp-David-Hemd und Bootsschuhen seiner Mutter, „dann musst du im Leben etwas bewegt haben“. Die Angesprochene steht neben mir in der Schlange vor der Brötchentheke und grinst. „Ich sag ja immer: Wer über Nacht reich werden will, muss tagsüber viel schaffen.“ Es werden Lachsbrötchen zum Sekt geordert. Lionel Richie ist der Deutschen liebster Sänger, den man irgendwie im Soul einordnen kann und man ist ihm dementsprechend ergeben.
Auf der Bühne der zu einem geschätzten Viertel abgehängten Schleyer-Halle beginnt derweil Marion Raven ihr Set. Die 29-jährige Norwegerin hatte vor Jahren mal ein Projekt mit Marit „If a Song Could Get Me You“ Larsen, das mehrere Millionen Platten umsetzte, und machte in ihrer Solokarriere poppigen Punk à la Avril Lavigne für die jüngere Zielgruppe. Jetzt wird der Support-Act auf ringsum im Foyer aufgehängten Plakaten als DER „Shooting-Star Norwegens“ inszeniert und macht auf der Bühne gar nicht einmal unangenehm dahinplätschernden Folk-Pop mit Countryprägung und Herzschmerzpowerballaden (Bonnie Tyler, übernehmen Sie), der sich sicherlich blendend verkaufen lässt. Mit dunklem Hut und buntem Kleid bewegt sich die zierliche Skandinavierin bedächtig und wechselt zwischen Gitarre und Keyboards. Unterstützt wird sie derweil von Mitmusikern an Bass und Piano. In Lionel Richies Zielgruppe vor allem durch ihr Duett mit Meat Loaf nicht unbekannt, wird „It’s All Coming Backt To Me Now“ in einer Vehemenz beklatscht, die andeutet, was keine 20 Minuten später Standard werden sollte.
Nach einer für eine bombastische Popshow angemessen kurz gehaltenen Umbaupause beginnt Lionel Richie sein Konzert überpünktlich zwei Minuten vor acht. Soundeffekte bauen Spannung auf, das Licht geht aus, wie Scherenschnitte erkennt man die Silhouetten der fünf Mitmusiker. „Hello“, schallt es aus den Lautsprechern. „Is it me you’re looking for?“ Die Menge tobt, ich lehne mich zurück und lasse Szenerie wie Abend auf mich wirken.
Mit Ausnahme einiger mitgeschleppter Kinder, bin ich heute gefühlt der einzige in Stuttgarts größter Konzerthalle, der in die Zeit nach den größten Hits des Protagonisten hineingeboren wurde und dem in der Adoleszenz Tochter Nicole durch ihre MTV-Sendung mit Paris Hilton auf bizarre Art vertrauter war. Aufgewachsen ist man ob der Omnipräsenz im Radio der 90er und 00er Jahre mit den Songs des immer freundlich lächelnden Amerikaners mit dem sympathischen Schnurrbart natürlich trotzdem. Ich gehöre damit zur letzten von drei Besuchertypen seiner Konzerte, die er nach wenigen Songs definiert. Anders als Gruppe 1, die mit den Commodores aufgewachsen ist und seiner eigenen Generation mehr oder weniger angehört, und der Gruppe 2, die mit seinen Songs als Zeitgeist-Hits groß wurde, muss man der Gruppe 3 erklären, welche Emotionen besungen werden. „It’s group three, that needs help“, feixt der 65-Jährige. Die Menge tobt, dabei ist von besagter Gruppe bis auf wenige Ausnahmen wenig zu sehen. Dass in „Still“ von seiner Motown-Soul-Combo Commodores Liebeskummer besungen wird, hätten diejenigen aber auch ohne Anleitung verstanden.
Doch Richie versteht sich bestens darin, den charmanten Conferencier einer nostalgischen Party in die eigene Jugend wie die des Publikums zu geben. „All the hits, all night long“ ist schließlich das Motto der Tour und Versprechen zugleich; und eines, das erfüllt werden kann. Nach der trotz ansehnlicher Tanzeinlage etwas hölzernen Eröffnung mit dem – gemessen am Oeuvre des Sängers und seiner mehrere Dekaden umspannenden Karriere – neuem Song „All Around The World“ gibt „Ballerina Girl“ die Richtung vor. Danach folgen nur noch Hits, Hits, Hits. Der beeindruckende Konzertflügel wird in den Vordergrund geschoben und erste Tränen laufen über strahlende Wangen. Richie spielt mit „Easy“ seinen vielleicht besten und ganz sicher einen seiner bekanntesten Songs und berührt mit der Commodores-Hymne ohne überlebensgroße Effekte. Seine überraschend kleine Band beginnt hier zurückhaltend, dann spielt sich der Gitarrist mit dem markanten Solo aus der mir besser vertrauten Faith-No-More-Version in den Vordergrund und ein Reggae-Zwischenspiel wird eingeschoben. Vom Klavier lässt Richie nun ab, tanzt wieder und die ersten Reihen geschlossen mit ihm. Der Rest klatscht. Schon hier wird klar, dass es vor allem die Lieder aus seiner echten Soulvergangenheit in den 70ern sind, die zeitlosen Anmut besitzen. „Sail On“, das funkige „Lady (You Bring Me Up)“ und selbstredend „Three Times A Lady“ bestätigen den Eindruck.
Dass der direkt an das legendäre Diana-Ross-Duett „Endless Love“ – „Who needs Diana Ross when you’ve got 6.000 people in Stuttgart singing her part?“ – anschließende Reigen späterer Hits aus den 90ern und frühen 00er Jahren, die sich vor allem in Europa – und vornehmlich Deutschland – besonders gut verkauften, weitaus frenetischer gefeiert wird, stimmt hingegen nachdenklich. „Just For You“ und „Angel“ sind zwar klassische Mainstreamradiohits, warten aber mit ausgestorben geglaubten Eurodancebeats auf, so dass man sich eher bei der 90s Disco, als auf dem Konzert von einem der erfolgreichsten Soulsänger der Vereinigten Staaten wähnt.
Die Stimmung bleibt immerhin bei den textsicher mitgesungenen Welthits „Say You, Say Me“ und „Dancing On The Ceiling“ bestehen, bevor die obligatorische kollektive Grölorgie bei „Hello“ folgt. Richie spielt die überraschte Mine ob des lautstarken Publikums zwar nur, die Freude hingegen ist keineswegs gekünstelt. Als großer Mainstreamstar in den USA herangereift, ist der Wahl-Kalifornier aus Alabama in Deutschland mittlerweile größer als in der Heimat. In Deutschland wirkt die Tradition des Beamtentums auch auf das Popgeschäft. Wo man international immer kämpfen muss, um populär zu bleiben, bindet man hierzulande die Massen durch regelmäßiges Touren und Aufmerksamkeit. Wie Grönemeyer, Die Toten Hosen, Die Ärzte oder Udo Lindenberg beweisen, kann man ab einer gewissen Popularität nicht mehr straucheln. Bei internationalen Musikern gilt das nach dem Tod von Joe Cocker neben Mark Knopfler für niemanden so sehr wie für den Amerikaner mit der samtenen Stimme. Als er nach „All Night Long (All Night)“ für die Zugabe „We Are The World“ im weißen Blazer umgezogen zurückkehrt, dankt er aus tiefem Herzen. Kollektiv wird sein „most meaningful“ Song, den er vor exakt 30 Jahren mit Michael Jackson schrieb, mitgesungen. Noch in der Bahn summt der ein oder andere die Charity-Single und schwärmt vom „besten Sänger der Welt“. Stolz wird der neue Pullover wie eine Trophäe präsentiert: „Team Lionel“ – keine Frage.
Guter Bericht, wäre gern dabei gewesen