ERDMÖBEL, 22.11.2014, Manufaktur, Schorndorf

Erdmöbel

Foto: Steve Sonntag

An einem voradventlichen Freitag flirren Minuten vor der Tagesschau die üblichen Verdächtigen des deutschen Pop-Establishment über den Bildschirm: Die Untoten des Deutschrock, die zuletzt in den frühen 80ern Wichtiges vollbrachten, spuken umher neben aktuellen Gesichtern, denen keine Großtaten gelingen mögen, und positiven Ausnahmen wie Thees Uhlmann und einigen Rappern, während man einen deutschen Aufguss von „Do They Know It’s Christmas Time?“ serviert. Das ist Pathos, Befindlichkeitskitsch und Selbstbeweihräucherung unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit in Ebola-Zeiten. Über die Ambiguität solcher Aktionen ist leidenschaftlich debattiert worden. Die Kölner Gruppe Erdmöbel gehört freilich nicht zu den Fans dieser Art Charity.

Einen Tag nach der Premiere der deutschen Band-Aid-30-Version beginnen Markus Berges, Ekki Maas und Co ihre eigene Weihnachtstour in der Manufaktur in Schorndorf. „Weihnachten mit Erdmöbel“ hat Tradition und das aus gutem Grund. Der allgemeinen Hektik und Hysterie, dem Konsumglauben und kitschigen Popsongs setzt man Entschleunigung und Qualität entgegen. Seit beinahe einer Dekade veröffentlicht die Indie-Institution jährlich eine Weihnachtssingle. Dieses Jahr kompiliert man das Ganze zum Album „Geschenk“, gespickt mit einigen neuen Weihnachts- und Jahresendliedern.

Erdmöbel

Foto: Steve Sonntag

Mit „Ich wollte, die Welt ginge immer bergab“ eröffnen die Kölner einen zweistündigen Reigen großer deutscher Popsongs. Vor dem „bösen W-Wort“ möchte man sich anfangs drücken, erklären Maas und Berges wiederholt, der große goldene Stern im Bühnenhintergrund und wärmende Glühbirnen vor den Protagonisten sorgen von selbst für die passende Stimmung. Es ist heimelig und ganz und gar nicht kitschig, was sich auf der Bühne in der gut besuchten Manufaktur abspielt. Schon zum Tourstart wirken Berges (Gesang und Gitarre), Maas (Bass), Keyboarder Wolfgang Proppe, Drummer Christian Wübben sowie die Bläsersektion um Christa Becker (Querflöte) und Henning Beckmann (Posaune) souverän eingespielt. Der dominante 60s Beat wird durch Querflöte und Posaune soulig ergänzt. Markus Berges beeindruckende – mitunter kryptische – Lyrik ist sowieso unantastbar und gerät im weihnachtlichen Kontext zwar weniger melancholisch als gewöhnlich aber doch nicht weniger berührend, erst recht in Verbindung mit seinem markant-sonorem Timbre.

Man möchte sich langsam an das Weihnachtsthema herantasten, schließlich liege der erste Advent wie auch der Dezember noch in der Zukunft, erklärt Ekki Maas in goldener Jacke zur weihnachtlichen Jogging-Hose. Die Setlist vereint Erdmöbel-Standards, die weihnachtlich-winterliche Themen anreißen, neben expliziten Weihnachtsliedern. So fehlt der wunderschöne Klassiker „In den Schuhen von Audrey Hepburn“ ebenso wenig wie „Russisch Brot“. Dazu gibt es „Einer wie wir“, die deutsche Version von Joan Osbournes „One Of Us“ vom besten Cover-Album überhaupt, „No. 1 Hits“ von 2007.

Erdmöbel

Foto: Steve Sonntag

Das Publikum lächelt selig, in den ersten Reihen sieht man einige Nikolausmützen, nur mit dem kollektiven Mitsingen, zu dem Berges immer wieder freundlich bittet, klappt es noch nicht so ganz. Bis Weihnachten ist es ja auch noch ein ganzes Stück hin, da kann es schon mal schwerfallen von „La la Lametta“ zu singen oder den letzten deutschen Schnee zu würdigen. Zur Abwechslung gibt es „Erster Erster“ und „Rakete zwischen den Jahren“, die an den DDR-Ersatzbrauch des Jahresendlieds erinnern, sowie den tieftraurigen Klassiker „Wort ist das falsche Wort“. „Muss der heil’ge Nikolaus sein“ mit atemberaubenden Bassläufen Ekki Maas‘ und „Goldener Stern“ knacken dann auch das bisher so mitsingresistente Schorndorfer Publikum. Auch die Band resigniert vor dem eigenen Versuch nicht das „W-Wort“ zu erwähnen und lässt der seligen Stimmung freien Lauf. Zu „Ding Ding Dong (Jesus weint schon)“ klingeln die Zuschauer rhytmisch mit den Schlüsselbünden, bevor mit der deutschen – und geglückten – Version des kitschigsten aller cheesy Wham!-Songs das reguläre Set endet. Als Zugaben gibt es noch ein paar Beweise für die einzigartige Schönheit des erdmöbel’schen Oeuvre in der deutschen Popwelt („Anfangs Schwester heißt Ende“, „Dreierbahn“ oder „Das Leben ist schön“). „Nah bei dir“ folgt als zweiter Block. Das Bacharach-Stück rundet mit Wohlklang und Brillanz einen tollen Abend ab, man fühlt sich glücklich und erleichtert. Die besinnliche Jahreszeit kann kommen, ganz gewiss, die Welt ist nicht schlecht.

Zwei Empfehlungen meinerseits zum Schluss: Wer noch nach Weihnachtspräsenten sucht, dem sei „Geschenk“ ans Herz gelegt. Lasst die Finger von Band Aid 30 und spendet an „Ärzte ohne Grenzen“, Gutes tun hat nichts mit Balsam auf das Rockstar-Ego zu tun.

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