XIU XIU, PERIGON, 19.11.2014, Komma, Esslingen
Das mit dem gig-blog darf man sich in etwa wie in einer Hippiekomune vorstellen, nur ohne hässliche Kleidung, hirnerweichende Drogen und esoterischem Sex-Hokuspokus. Aber so vom Peace-Ding her, eindeutig Hippies. Da begleitet man eben den Fotografen, der Bock auf ein bestimmtes Konzert hat, natürlich nach Esslingen, auf dass ein Artikel mit seinen hervorragenden Fotografien zustande kommt. Man selber hat halt leider gar keine Ahnung, was einen hier erwartet. Die Fotografen sind ja oft auch immer so spontan und springen ein, selbst wenn sie die Künstler nicht kennen. Total süß von uns wie der eine dem anderen hilft! Gut, im Gegensatz zum Text merkt man’s den Fotos vielleicht nicht so an, wenn der Autor mit der Musik evtl. nix anfangen kann, aber egal. Sei es wie es sei, ich hoffe auf einen schönen Musikabend mit den mir total unbekannten Xiu Xiu.
Also musikalisch unbekannt. Der Name lief mir schon öfters über den Weg. Die befreundete Apulienbande um die Organisatoren des Contronatura Festival halten z.B. große Stücke auf Xiu Xiu. Lass ich mich mal hoffnungsfroh einstimmen mit dem Support Perigon, die um 21:20 Uhr im noch recht spärlich besuchten Komma die Bühne betreten. Das Duo beginnt mit einem französischsprachigen Song. Die Sängerin wiederholt immerwährend dieselben zwei Akkorde, die Keyboarderin sorgt im Hintergrund für Fläche. Gesang und Melodie finde ich gleich mal ansprechend. Bin ja kein sonderlicher Fan von reduzierter Lo-Fi Musik, aber das erste Stück schafft gleich mal so eine nette „Planet Caravan“ Atmosphäre. Refrains haben die Songs keine zu bieten, aber die Stimme und die Melodien, die sie singt, finde ich sehr ansprechend.
Nach dem dritten Song kommt die Gitarre weg, es kommen erstmals Beats aus der Dose. Die Atmosphäre wechselt von der bisher atmosphärisch-psycho-folkigen Stimmung zu einer düsteren, beängstigenden. Die unheilvollen Sounds des Keyboards prägen nun die Musik. Teilweise weichen die Melodien nun Spoken Words Parts. Anne Clark kenne ich zu wenig, um jetzt wirklich sagen zu können, dass es vielleicht tatsächlich daran erinnert. Aber mir kommt die Assoziation eben.
Von wenigen Momenten abgesehen, v.a. wenn auf der Gitarre nur auf einem Akkord geschrammelt wird und bei mir nicht die erhoffte hypnotische Stimmung aufkommt, finde ich es doch erstaunlich, mit welch einfachsten Mitteln Perigon es schaffen ein schönes, atmosphärisch ansprechendes Set zu bieten. Kurzweilige 25 Minuten, doch, doch.
Recht spät, um 22:10 Uhr beginnt das Set von Xiu Xiu. Mittlerweile ist das Komma ganz angenehm besucht, und bekommt auch im Hauptset ein Duo zu sehen. Gitarre gibt es hier allerdings gar keine. Eine stehende Drummerin, und der unter Strom stehende Stewart fangen gleich mal mit einem Stück an, das wie der Tag-Alptraum eines Junkies auf Entzug klingt. Die eindringliche Stimme, die maschinellen Drums, verstörende Synthiefetzen, sowie Stewart, der jede einzelne Note der Musik zu durchleben scheint, kalt lässt einen das nicht.
Trotz aller Verstörtheit, hat das Ganze was von einer Industrial-Cabaret-Aufführung, wenn es denn sowas gäbe. Die ersten Stücke vor allem haben noch einen gewissen Popappeal. Das Dritte ist sogar etwas entspannter, im Refrain schlägt Stewart zwei Klanghölzer aneinander. Das vierte Stück ist wieder sehr perkussiv und hat was von einem EBM-Samba. Der Sound ist so artifiziell, wie es nur geht, der Beat mechanisch, und doch geht der Song gut in die Beine.
Stewart indes singt im Regelfall eher weniger, sondern spricht eher auf dramatische Art und Weise seine wahrscheinlich nicht allzu frohen Texte. Mal ist es Flehen, mal Verzweiflung, mal Wut. Bei einem Stück schlingt er sich das Mikrofonkabel um den Hals, als wolle er sich damit erdrosseln. Entweder wirkt das Prozac noch nicht, oder, wahrscheinlicher, er nimmt gar keins. Ein musikalischer Höllentrip durch seelische Abgründe. Anstrengend, belastend, begeisternd.
Xius Xius Musik wurde ja an einer Stelle in diesem Internet mal als „kackophonisch“ beschrieben. Also ob der Kackofant so Musik macht oder mag, weiß ich nicht, aber Dissonanzen und kakophonische Elemente gibt es auf jeden Fall.
Die ziemlich langen Pausen zwischen den Songs folgen auch einem ganz eigenen Muster. Stille – dann ein paar Sekunden irgendwelche, meist verzerrten Synthiegeräusche – dann wieder Stille. Konsequent wird das durchgezogen. Wie überhaupt Konsequenz ein gutes Schlagwort für die Aufführung hier ist. An Popmusik erinnert mittlerweile nur noch die radiokompatible Länge der Songs, die Musik ist allerdings eine Art Psychopathen-Fegefeuer. Stewart spielt alles ohne jegliche emotionale Reserve mehr, schwitzt sich den Leibhaftigen aus dem Leib, aber auch das Betrachten der Performance der Drummerin sorgt für höchste Unterhaltung.
Da ich das alles zum ersten Mal höre und mit dem Genre eigentlich fremdel, kann ich nicht beurteilen, ob die Musik nach mehrmaligem Hören sich auch als tatsächlich greifbare Songs im konventionellen Sinne erschließen. Das Konzert, welches nach 60 Minuten ohne Zugabe beendet wird, ist auf jeden Fall eine eindringliche und aufwühlende Erfahrung. Und beim Hinausgehen erblicke ich noch auf dem Konzertplakat das Wort, mit dem die Musik Xiu Xius wohl bestens beschrieben ist: Traumatic Pop.
Großartiger Artikel, Lino! Da zeigt sich die ganze Meisterschaft: von nichts ’ne Ahnung, aber voll dabei! (Dabei hättest du es dir ja auch leicht machen können und einfach ein bissle um Schmoudis Top-Bilder drum herum schreiben) ;)
„EBM-Samba“ – und ich tanz nicht mit – Mist!
Das wäre wohl was für mich gewesen. So kann ich es wenigsten nachlesen und -sehen.
Danke
Mir gefällt die Umschreibung „Psychopathen-Fegefeuer“ recht gut. Eigentlich auch nicht anders wie auf der täglichen Arbeit… :D