MARIENPLATZFEST, 03.-06.07.2014, Marienplatz, Stuttgart
Was für ein Wochenende! WM-Viertelfinale, Sonne aus allen Knopflöchern und ein Wohnzimmerkonzert der Extraklasse. Unter diesen Umständen gar nicht so einfach, umfassend über das viertägige Marienplatzfest zu berichten. Drei Schreiber und zwei Fotografen unternehmen den Versuch, die einzigartige Atmosphäre des ganz besonderen Stadtteilfests einzufangen. Bei diesem exquisiten Line-Up hätte jede Band eine umfassende Berichterstattung verdient. Da aber auch wir nicht immer überall sein können, gibt’s manchmal nur Bilder, manchmal nur einen Kurzbericht. Und manchmal auch gar nichts. Dem Vernehmen nach sollen zum Beispiel I Am In Love ein wunderbares Set abgeliefert haben, unser Bericht ist aber leider dem Viertelfinale zum Opfer gefallen. Zuerst soll Carsten unser Spezialist für große Festivals nah und fern zu Wort kommen…
Was will man denn mehr? Deutschland gewinnt gegen Frankreich im WM-Viertelfinale, das Wetter spielt auch mit und dann ist dieses Wochenende auch noch das schönste Stadtfest weit und breit – das Marienplatzfest. Mit einem 1:0 im Gepäck und ein paar Bier im Kopf brechen wir bestens gelaunt auf um nette Menschen zu treffen, bissle was zu futtern, das ein oder andere Bier (wahlweise auch Weinschorle) zu trinken und ganz nebenbei noch richtig gute Musik live zu hören. Der Zeitpunkt für das Marienplatzfest ist für mich leider eher suboptimal und für mehr als zwei Stündchen wird es mir dieses Jahr nicht reichen. Hat aber private Gründe und da kann keiner der Organisatoren was für. Schade eigentlich. Sonst könnte ich das denen in die Schuhe schieben und ein wenig rumlamentieren. Aber na gut – immerhin ein bissle kann ich.
In meiner alten Hood angekommen (von meiner alten WG aus konnte man sogar einen kleinen Teil des Marienplatzes erspechten) werden wir erstmal von Protestlern empfangen, die sich mitten auf der Hauptstätter Straße vor dem Heslacher Tunnel positioniert haben um ihren politischen Unmut kundzutun. „With love and solidarity to the Brasil Protest“ steht auf einem Transparent, das ein Clown (das ist keine Wertung, der war tatsächlich als Clown verkleidet!) und eine spärlich bekleidete junge Dame den doch etwas verdutzten aber aus irgendeinem Grund nicht wirklich wütenden Autofahrern entgegenhalten. Unter ihren nackten oder besser gesagt spärlich abgeklebten Brüsten prangt noch ein „Fuck FIFA“. Kann man ja mal machen und ist auch inhaltlich gar nicht mal so verkehrt. Jetzt mal so ganz objektiv gesehen.
Wir verlassen die Szenerie und schlagen uns gleich zum Stand des Madagascar durch. Schnell ausnutzen, dass die ganzen Fußballgucker noch nicht da sind. Spart lästige Anstehzeit. Mit Dilot (Rinderhack mit Couscous) bestens gestärkt geht es weiter zum Getränkestand. Bier holen und so. Als Standort entscheiden wir uns dann für den veganen Hotdogstand. Weil da früher oder später fast jeder hinkommt, den ich so kenne. Und so ist es dann auch. Wir treffen viele nette Menschen, es wird viel getrunken, noch mehr gelacht und wir genießen die wundervolle Stimmung. Das Fest auf dem von uns liebevoll Maryplace genannten Platz zieht eben eher auch alternatives Publikum an. Die Leute sind bunter, die Stände cooler und die Musik etwa zweiundzwanzig mal so gut wie auf allen anderen Stadtfesten zusammen. Und ich finde plötzlich auch noch meinen Tattoo-Zwilling. Scheint ein noch größerer Sigur Ròs-Fan zu sein als ich. Meinen Facebook-Post kommentiert einer mit „Sofort heiraten das Mädchen!“. Bin ich aber schon und auch der Freund der jungen Dame hätte da sicher was gegen. Trotzdem abgefahren. Doof nur, dass ich nicht lang bleiben kann. So wird das Konzert der Intergalactic Lovers (die ich eigentlich ziemlich gern mag) eher zum Soundtrack für das Treffen mit Freunden. Aber na gut, sind ja zum Glück auch noch Kollegen hier. Die wissen da sicher mehr. Ich werde mich bald schon auf den Heimweg machen. Denn morgen ist ein stressiger Tag und so. – Carsten
Personifiziert durch Reiner Bocka, der von den Besuchern und den besuchenden Bands am ehesten wahrgenommen wird, liefert das gesamte Organisationsteam mit dem dritten Marienplatzfest sicherlich sein bisheriges Meisterstück ab. Nörgelnden Anwohnern wird mit der Silent Disco ab 22 Uhr und insgesamt angenehmer Lautstärke sicher viel Wind aus den Segeln genommen. Außerdem ist der Marienplatz zu keinem Zeitpunkt übertrieben vermüllt.
Auch das Essens- und Rahmenprogramm ist nochmal vielfältiger geworden und wird zum Großteil von Institutionen aus der näheren Nachbarschaft des Marienplatzes gestemmt. Und allen voran ist das Line-Up wirklich überragend und vielseitig.
Nur fair, dass auch die Wettergötter gut drauf sind und es meist nur dann regnet, wenn eh mal Verschnaufpause angesagt ist. – Thomas
MISTER & MISSISSIPPI, Donnerstag, 17:00 Uhr, RUE ROYALE, Freitag, 17:00 Uhr
Klar spielt die bekannteste Band am Ende. Aber eben nicht auf dem Marienplatzfest. Wild durcheinander gewürfelt spielen viele „große“ Bands sehr früh. Vielleicht um den Besucherandrang ein wenig zu entzerren. Vielleicht um dem frühen Vogel einen besonders dicken Wurm zu servieren. Aber vielleicht auch einfach, weil es egal ist. Mister & Mississippi und Rue Royale nutzen jedenfalls ihre frühen Bühnen-Slots, die Sonne und ihre leisen Hymnen und verzaubern den noch sehr angenehm gefüllten Marienplatz am frühen Nachmittag. Egal wann man dieses Wochenende an den Marienplatz kam erwartete einen eine ganz besondere Stimmung. Zu jeder Tageszeit anders, aber immer einzigartig. – Thomas
CARACOL, Donnerstag, 19:00 Uhr
ANE TROLLE, Donnerstag, 21:00 Uhr
INTERGALACTIC LOVERS, Freitag, 21:00 Uhr
Intergalactic Lovers, die Indie-Popper um Lara Chedraoui haben in Belgien den Durchbruch geschafft und auch unlängst in Stuttgart begeistert. Dass der Platz aber genau zu Ihrem Set außergewöhnlich gut gefüllt ist, hat sicher einen anderen Grund: aus allen Zugangsstraßen strömen die Fußball-Fans auf den Marienplatz und wollen den Einzug der Deutschen ins Halbfinale feiern. Und die aufkommende Schland-Stimmung passt irgendwie so gar nicht zu diesem Fest. Trotzdem behaupten sich Intergalactic Lovers mühelos mit ihren kraftvollen Pop-Rock-Songs. Dass diese Musik auch für ein breiteres Publikum taugt, ist in diesem Fall eine glückliche (oder genial vorgesehene?) Fügung im Zeitplan. – Holger
ÚTIDÚR, Samstag, 15:00 Uhr
Samstagmittag, 15 Uhr, lauwarmer Nieselregen, der Platz eher mäßig gefüllt und auf der Bühne eine Band, die das von der positiven Seite sieht. Da fühle man sich doch gleich wie zuhause in Island. Útidúr heißt die siebenköpfige Kapelle und sie haben schon einmal einen tollen Gig im Galao gespielt. Folk-Pop im Breitwand-Format spielen sie. Mit Geige, Akkordeon und Saxophon streuen sie ein Prise Mariachi oder auch Balkan ein. Wer Beirut mag, fühlt sich hier sofort wohl. Musik wie ein Soundtrack, stimmungsvoll und vielschichtig. Unbedingt mal zu erwähnen: der Sound ist hier, wie bei allen anderen Bands, ausgesprochen gut, nicht zu vergleichen mit manch anderem lieblos abgemischten Open-Air-Event. – Holger
KRISTOFFER AND THE HARBOUR HEADS, Samstag, 17:00 Uhr
Kristoffer Ragnstam ist in Stuttgart schon lange kein Unbekannter mehr. Und seit er mit den Harbour Heads als Backingband unterwegs ist, auch glücklicherweise wieder öfter hier. Bestes Beispiel hierfür ist sein Auftritt am Nachmittag des dritten Marienplatzfesttages; er ist eigens dafür aus Göteborg (Ja, das Göteborg in Westschweden) angereist. Gute 2.500 km. Das zeigt zumindest ein bisschen, welche Wertschätzung das Marienplatzfest und auch das Galao bei Bands mittlerweile genießt. Der gemeine Stuttgarter weiß das durchaus zu schätzen, auch wenn Kristoffer inklusive Mitmusiker schon inspiriertere Konzerte in Stuttgart abgeliefert hat. Viele „Hits“ fehlen und die meisten neuen Lieder verlieren durch übermäßigen Sampleeinsatz den sonst so minimalistischen Charme. Das neue Album kommt bald und Kristoffer Ragnstam dann auch hoffentlich wieder in Stuttgart vorbei. – Thomas
STULLENHEIMER, Samstag, 19:00 Uhr
A FOREST, Sonntag, 15:00 Uhr
OY, Sonntag, 17:00 Uhr
Für mich die Überraschung des Festivals: das Berliner Duo OY. Ein spannender Mix aus Elektrobeats und afrikanischer Musik. Sängerin Joy Frempong bedient nicht nur x verschiedene Tasteninstrumente und andere elektronische Gadgets, sie hat auch eine wunderbare Stimme, die sie mit Loopmaschinen vervielfältigt und live durch Vocoder verfremdet. Da lässt Laurie Anderson grüßen. Rhythmisch ist das Ganze trotz einiger vertrackter afrikanischer Rhythmen absolut auf Tanzbarkeit angelegt. In einem Club zu vorgerückter Stunde sicher noch wirksamer, aber auch in der Nachmittagssonne sehr stimmungsvoll. „Market Place“ ist ein eingängiger und fröhlicher Afrobeat, der wunderbar auch das Treiben auf dem Marienplatz beschreibt. Eine wichtige Lebensweisheit gibt uns OY auch noch mit auf den Weg: „Don’t run to the funeral of the man who stumbled and died.“ Ein bisschen Mitleid haben wir allerdings mit Schlagzeuger Lleluja-Ha (aka Marcel Blatti), der unter einer gewaltigen Maske versteckt ist, und sicher mörderisch schwitzen muss. – Holger
GOMO PARK, Sonntag, 19:00 Uhr
LOWLAKES, Sonntag, 21:00 Uhr
Lowlakes mit ihrem Dream Pop sind ein durchaus würdiger Abschied für ein fantastisches Stadtfest Festival an einem verschlafenen Sonntag Abend. Ein bisschen zu viel Hall auf dem Gesang und ein bisschen zu vielen unnützen Drumsamples zum Trotz lassen die Ostaustralier, darauf besteht Sänger Snowdon, den gesamten Marienplatz noch einmal träumen. Von allem, nur nicht dem ins Haus stehenden Montag. Das klappt so gut, dass fast alle die bedrohliche Gewitterfront, die direkt hinter der Bühne aufzieht wahrnehmen. Außer der Bühnen-Crew. Die macht sich dann in Windeseile und mit einer artistischen Leichtigkeit ans Werk, die Bühne abzubauen, die sogar die Burlesque-Tänzerin von Freitagabend blass aussehen lässt. Um Punkt 22 Uhr ist die Bühne dann auch schon soweit abgebaut, dass Lowlakes das Feld räumen müssen. – Thomas
Ane Trolle
Caracol
Intergalactic Lovers
Útidúr
Kristoffer & The Harbour Heads
Stullenheimer
A Forest
Oy
Gomo Park
Lowlakes